Blicke nach Israel Die Ukrainer gehen mit Sorgen in den Winter


Auf dem tschechischen Truppenübungsplatz Libavá trainieren derzeit hunderte ukrainische Soldaten.
(Foto: AP)
Der Krieg in Nahost ist auch für die Ukrainer ein großes Thema. Einerseits blicken viele mit Solidarität nach Israel. Andererseits gibt es die Sorge, dass die Munition knapp werden könnte - aber auch die Hoffnung, dass der Westen endlich mehr produziert und liefert.
Neben der aktuellen Lage an der Front gibt es in der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Moment vor allem ein Thema: den Winter. Noch hat Russland mit seinen Angriffen auf die Energieinfrastruktur der Ukraine nicht angefangen. Dafür ist es bei aktuellen Plustemperaturen von deutlich über zehn Grad wohl zu früh. "Die Nervosität der Menschen steigt aber bereits zunehmend", berichtet etwa der Verkäufer in einem Techniksupermarkt im Norden Kiews. "In den letzten Wochen ist die Nachfrage nach Powerbanks und anderen Geräten, die man im Fall von Stromausfällen braucht, bei uns um rund 40 Prozent gestiegen, obwohl sie ohnehin schon groß war. Die Menschen gehen ganz klar von mindestens ähnlichen Zuständen wie im letzten Winter aus."
Die kommenden Angriffe auf Energieanlagen sind bei Weitem nicht das einzige Thema, welches die Ukrainer gerade beschäftigt. Natürlich spielt der Frontverlauf eine übergeordnete Rolle. Die Offensive der ukrainischen Armee im Bezirk Saporischschja geht weiter, außerdem gibt es verstärkte amphibische Überquerungsversuche über den Fluss Dnipro in Richtung des besetzten Teils der Cherson. Seit dem 10. Oktober führen aber auch die Russen massive Angriffsversuche auf die Stadt Awdijiwka im östlichen Bezirk Donezk durch - und obwohl die Ukrainer die strategische Initiative nicht verloren haben, sind ähnlich große Frontdurchbrüche wie im letzten Jahr bisher ausgeblieben.
Solidarität mit Israel - aber auch Sorge um den Nachschub
Sorgen bereitet auch die internationale Lage. Die faktische Niederlage der PiS-Partei bei der Parlamentswahl in Polen ist für die Ukraine zwar eher positiv. Dass in der Slowakei aber eine offen antiukrainische Partei die Wahlen gewann und dass der Ukraine-skeptische Trump-Verbündete Mike Johnson in den USA zum neuen Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt wurde, ist für die Ukrainer sicher nicht von Vorteil. Zudem bringt der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel Kiew in eine zwiespältige Lage. Zwar ist die Solidarität mit Israel in der Ukraine sowohl auf der Regierungsebene als auch in der Gesellschaft groß - trotz der eher neutralen Position der israelischen Regierung mit Blick auf den russischen Angriff. Israelische Fahnen waren in der Hauptstadt in den letzten Wochen keine Seltenheit.
Besorgniserregend ist für die Ukraine weniger, dass das internationale Interesse am russischen Angriffskrieg kleiner geworden ist. "Alleine für Aufmerksamkeit kann man keine Waffen kaufen. Hilfe ist wichtiger als Aufmerksamkeit", stellt etwa der ursprünglich russischstämmige Jurist Ilja Nowikow fest, der die Interessen des ukrainischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko vertritt. Befürchtet wird, dass der Konflikt im Nahen Osten sich länger als erwartet hinzieht, eventuell weitere Fronten dazukommen und sowohl Israel als auch die Ukraine die gleiche Artilleriemunition brauchen würden, deren Produktionsniveau im Westen ohnehin nicht ausreichend ist.
"Stets gibt es rote Linien"
Es gebe keinen Grund zur Sorge, falls der Konflikt zeitlich begrenzt bleibe, sagt auch Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, gegenüber lokalen Medien. "Wenn sich der Krieg aber richtig in die Länge zieht, wird es Probleme damit geben, dass Waffen und Munition nicht alleine an die Ukraine geliefert werden müssen." Der Kiewer Politologe Petro Oleschtschuk, der an der Schewtschenko-Universität unterrichtet und für die Denkfabrik "Geeinte Ukraine" tätig ist, glaubt aber nicht, dass der Israel-Krieg die Ukraine groß betreffen wird: "Was die Aufmerksamkeit anbetrifft, ist es zum Beispiel eine ganz normale Situation. Es kann nicht immer nur um die Ukraine gehen. Es wird immer andere Themen und Konflikte geben."
Wichtiger sei, welche Schlüsse "die zivilisierte Welt" ziehen werde. "Die Zerstörung der internationalen Sicherheit wurde von Russland 2014 mit der Krim-Annexion angestoßen. Daher vereinen sich die undemokratischen Regime in eine Art neuen Achse des Bösen. Es ist nicht nur der Krieg der Ukraine: Sollte Russland Erfolg haben, gibt es nicht mehr nur vereinzelte Krisenregionen auf der Welt, sondern einige Dutzende", so Oleschtschuk. Die Stimmung in der Ukraine selbst schätzt er als weiterhin entschlossen, gleichzeitig jedoch auch als schwierig ein - nicht zuletzt wegen einer gewissen Unzufriedenheit mit dem Westen. "Es gibt sehr viele Aspekte, die die allgemeine Stimmung beeinflussen - und eine Art Enttäuschung gehört dazu, die auch auf die westlichen Partner abzielt", meint der Politologe. "Der Westen hat viele Ressourcen, doch es gibt stets irgendwelche künstlichen Begrenzungen, rote Linien, während Russland für sich keine Begrenzungen aufstellt und teils offen Terrorismus betreibt."
Ungeduld im Westen nervt die Ukrainer
Es gebe viele Worte über Zusammenhalt und Unterstützung, solange es nötig ist, die aber nicht immer von konkreten Taten untermauert würden. "Russland hat weiterhin eine Flotte, sie haben Raketen, Luftüberlegenheit, mehr Technik, mehr Geld und so weiter, aber im Westen denken viele, dass die Ukraine leicht gegen Russland gewinnen müsste - und wenn etwas nicht so läuft wie erhofft, kommt schnell Kritik", sagt Petro Oleschtschuk. "Das nervt einige Menschen [in der Ukraine]. Es entsteht manchmal der Eindruck, als ob es das primäre Ziel des Westens sei, für sich komfortable Bedingungen für zukünftige Sicherheitsverhandlungen zu schaffen - und nicht der ukrainische Sieg im Abwehrkrieg gegen Russland."
Oleschtschuks Kollege Wolodymyr Fessenko, der das Zentrum für angewandte politische Forschung Penta leitet und dem Team um Präsident Wolodymyr Selenskyj nahesteht, sieht vor allem mehrdeutige Folgen des Israel-Krieges für die Ukraine. "Eine gewisse Reduzierung der Hilfen, darunter auch der militärischen, durch die USA ist möglich. Die aktuelle Situation könnte aber die USA und die EU endlich dazu zwingen, die Produktion von Waffen und Munition deutlich auszuweiten", sagt der Politikwissenschaftler. "Es besteht auch die Möglichkeit einer gewissen Erwärmung der Beziehungen zwischen Israel und der Ukraine. Womit man aber sicher nicht rechnen sollte, ist eine Verbesserung der Beziehungen mit dem sogenannten Globalen Süden."
Mit Blick auf die Beziehungen zu den USA ist Fessenko weiterhin optimistisch. "Die Ukraine bleibt eine der Hauptprioritäten der Außenpolitik der USA und insgesamt des Westens", betont er. "Sowohl die Krise um Israel als auch der ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression werden im einheitlichen Kontext des Kampfes für demokratische Werte der westlichen Welt betrachtet."
Quelle: ntv.de