Die Wahl, die AfD und der Osten Die Verletzung, die die Ossis nicht so schnell verzeihen werden
02.03.2025, 08:35 Uhr Artikel anhören
AfD-Werbung in einem Ortsteil von Görlitz. Die Partei gewann dort 46,7 Prozent der Zweitstimmen.
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Bei der Bundestagswahl erreicht die AfD ein so starkes Ergebnis wie nie zuvor - auch im Westen der Republik. Im Osten knackt die Partei aber reihenweise die 40-Prozentmarke und gewinnt fast alle Wahlkreise. Die Radikalisierung in Ostdeutschland wird immer krasser. Das hat Gründe.
Seit der Bundestagswahl wissen wir, was wir längst ahnten: Deutschland ist mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wieder politisch geteilt. Abermals diskutiert das vom Westen dominierte Land: Was ist nur los im Osten? Wieso ticken die Ossis, wie sie ticken? Ich kann es nur bruchstückhaft erklären. Was ich aber weiß: Die Radikalisierung der Rechten in Ostdeutschland wird immer krasser, das extrem rechte Gedankengut sickert immer tiefer in die Mitte der Gesellschaft.

Jakob Springfeld, Jahrgang 2002, kommt aus Zwickau und kämpft gegen Rechtsextremismus. Gemeinsam mit dem Journalisten Issio Ehrich hat Springfeld das Buch "Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen Rechts" verfasst.
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Wenn ich in Schulen lese, erlebe ich oft Folgendes: Die laute, scharf rechte (Noch-) Minderheit sorgt dafür, dass die demokratische, ohnehin leise Mehrheit ihre Klappe hält. Was neu ist? Nicht mehr "nur" queere, geflüchtete oder "alternative" Kids werden zur verbalen oder körperlichen Zielscheibe radikalisierter Rechter, sondern auch die "politisch Neutralen", die sich aus allem raushalten. Wer sich nicht klar auf die Seite der AfD stellt und damit auf die Seite von "Männlichkeit", "Anti-Woke" und "Stärke", wird immer schneller zum Opfer.
Dieser Kulturkampf - und das ist das Fatale - wird gerade im Osten schon lange nicht mehr nur von der AfD betrieben: gegen Gendern, "hässliche" Windräder und Tempolimit zu argumentieren, ist keinesfalls per se ultrarechts, aber in vielen ostdeutschen Regionen breiter Konsens, was den rechtsextremen Kräften in die Hände spielt, um eine menschenfeindliche und spaltende Agenda zu verfestigen und in die Köpfe der Bevölkerung zu setzen. Was besonders bedauerlich ist: Die ostdeutsche CDU läuft der AfD hinterher, passt sich an und rückt selbst immer mehr nach rechts - die Brandmauer ist nur noch eine Hecke.
Ostdeutschland im Wahlkampf rechts liegen gelassen
Wenn viele, keineswegs alle, CDUler der AfD nach dem Mund reden, wirkt die AfD wie ein konsequenterer, ehrlicherer und effizienterer Player - vor allem dort, wo sich eine kollektive Abstiegsangst, die mal berechtigt und mal unberechtigt sein mag, auszubreiten scheint. Viele Ossis kennen dieses Abstiegsgefühl aus ihren Biografien und es wäre ein Irrtum zu glauben, dass sich dieses Gefühl nicht auch auf meine Generation überträgt. Wenn mein Papa und seine Kollegen um ihren Job bei Volkswagen in Zwickau bangen müssen, dann macht dieses Bangen keinen Halt vor uns Jüngeren. Gerade abgehängte und einsame Männer unter 30 treibt das zur Weißglut und im Zweifel in die Hände der AfD oder zu Neonazi-Parteien.
Auf der einen Seite finde ich es zum Kotzen, wenn Ostdeutsche mit bestehenden Ost-West-Ungleichheiten (geringere Löhne, Erben und Repräsentanz) die Wahl von AfD und BSW legitimieren wollen, während es den meisten von ihnen besser geht als vor 35 Jahren. Auf der anderen Seite kann es eben auch keine Lösung sein, diese bestehenden Ungerechtigkeiten zu ignorieren und auszusparen. Ostdeutschland hat im bundesdeutschen Wahlkampf demokratischer Parteien kaum eine Rolle gespielt und das ist eine riesige Verletzung - eine Verletzung, die viele Ossis, ob jung oder alt, nicht so schnell verzeihen werden.
Unter diesen Gesichtspunkten halte ich es übrigens für völlig absurd, dass sich die Bundesspitze der Union Sonntagabend in Feierlaune suhlte. Die Ost-Ergebnisse der CDU sind keinesfalls ein Erfolg! Sogar Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, ein Christdemokrat, hat das verstanden. Für mich spricht das dafür, dass der Osten viel zu vielen Westdeutschen offensichtlich mal wieder herzlich egal war, obwohl der erneute Rechtsruck auch vor Westdeutschland keinen Halt gemacht hat. Hier verfahren die etablierten Parteien wie eh und je: Die Wahlen werden im Westen gewonnen, also lassen wir den Osten links oder vielmehr rechts liegen. Dabei hinkt der Westen dem Osten bei der AfD-Zustimmung nur einige Jahre hinterher. Es ist nur, wenn Merz und Co. das nicht endlich verstehen, eine Frage der Zeit, bis der Westen dort ist, wo der Osten längst ist.
46,7 Prozent in Görlitz
Signale, die mehr als Alarmzeichen sind, gibt es schon. In Kaiserslautern und Gelsenkirchen konnte die AfD mit 24,7 und 25,9 Prozent die meisten Zweitstimmen gewinnen. Klar, im Gegensatz zu satten 46,7 Prozent etwa in Görlitz wirkt das hanebüchen, doch Westdeutsche sollten aufhören, sich sozusagen in Sicherheit zu wähnen. Erstens, weil die hohe AfD-Zustimmung im Osten auch auf sie politische Auswirkungen haben wird, und zweitens, weil wir uns ein Verantwortungsgefühl, das an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze endet, schlicht nicht mehr leisten können. Ich als Sachse kann nur sagen: Kaiserslautern und Gelsenkirchen geht den Osten genauso an wie den Westen Görlitz. Die AfD ist im gesamten Bundesgebiet auf dem Vormarsch und der erhobene Zeigefinger auf bestimmte Landesteile verharmlost die gesamtdeutsche Demokratiekrise.
Die Erfahrungen, die ich an ostdeutschen Schulen mache, sind weitaus brisanter als die im Westen. Es wäre also falsch, die Festsetzung des Rechtsextremismus in Ost- und Westdeutschland auf eine Stufe zu stellen. Andererseits kann es doch nicht sein, dass die Empörung Westdeutscher über Städte im Osten mit mehr als 20 Prozent Wähleranteil der AfD heute ausbleibt, während die Partei im Westen ähnliche Ergebnisse einfährt. Klar, die Ost-AfD ist mit ihren mittlerweile knapp 40 Prozent bedrohlicher als anderswo. Doch bei der diesjährigen Bundestagswahl hat die AfD vor allem in Westdeutschland gewonnen - und das übrigens meist dort, wo die wenigsten "Ausländer" leben. Wer all diese Parallelen der Entwicklung übersieht, könnte eines Tages in einem Land aufwachen, das nichts mehr mit der Bundesrepublik von heute zu tun hat.
Quelle: ntv.de