"Nichts Gutes ist zu klein"Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten im Wortlaut

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
stellen wir uns nur einen Moment lang vor, es gäbe gar kein Weihnachten: Die Zeit vor dem Jahreswechsel wäre leer, geprägt von den immer gleichen Sorgen des Alltags wie alle anderen Tage des Jahres auch. Was würde nicht alles fehlen: der Lichterglanz in den Städten, die uralten Lieder, die unser Herz erwärmen, die mit Liebe ausgesuchten Geschenke, die erwartungsvollen Kinderaugen, die Weihnachtsbäckerei, Weihnachtsmärkte, Weihnachtsgeschichten. Wäre unsere Welt nicht schon deshalb sehr viel ärmer?
Aber es sind nicht nur diese schönen Bräuche und Rituale, die uns Weihnachten so wichtig machen. Es ist vor allem die Botschaft: In der Dunkelheit erstrahlt ein Licht.
Für "Dunkelheit" können wir all das einsetzen, was jeden einzelnen von uns bedrückt - eine Krankheit etwa, der Verlust eines nahen Menschen, Einsamkeit, die Angst um den Arbeitsplatz, die Sorge um die persönliche Zukunft unserer Lieben - oder auch das, was uns als Gesellschaft ängstigt: die Krisen und Kriege in der Welt, die Unsicherheiten vor der Zukunft.
Und für das "Licht" können wir all das einsetzen, was uns trotz allem immer wieder Hoffnung gibt, was uns stärkt, was uns Lebensfreude und Mut gibt: die Gemeinschaft in vielen Formen, in der Familie, in Gruppen und Vereinen, die Erfahrung, willkommen und angenommen zu sein, das Engagement so vieler für eine bessere Welt und vor allem sind es die Menschen, denen wir in Liebe verbunden sind.
Weil das die zentrale Botschaft ist, dass das Licht in der Dunkelheit erstrahlt, darum freuen wir uns so über Weihnachten. Es macht unser Leben erwartungsvoller, froher, wärmer, zuversichtlicher.
Mit solcher Zuversicht haben wir die Kraft, uns für unsere Welt und für unsere Mitmenschen einzusetzen. Das gilt für die Politik im Großen und das gilt für die vielen kleinen Initiativen überall im Land.
In den kommenden Tagen zum Beispiel werden in vielen Städten und Dörfern wieder die Sternsinger durch die Straßen ziehen: Gruppen von Kindern, als Dreikönige verkleidet, unterwegs von Haus zu Haus.
Sie werden den Menschen den weihnachtlichen Segen bringen, Lieder von der Geburt des himmlischen Kindes singen - und sie werden auch Spenden sammeln und diese weitergeben für arme und vernachlässigte Kinder in der Welt. Beim letzten Mal konnten die Sternsinger im ganzen Land fast 50 Millionen Euro sammeln. Ein starkes Zeichen von Kindern für Kinder - ein Zeichen, das uns allen Mut machen kann.
Die kleinen Könige folgen wie ihre biblischen Vorbilder einem Stern: das Licht als verlässliche Orientierung in dunkler Nacht. Auf unseren eigenen Wegen fragen wir uns ja oft: Woran sollen wir uns halten, was wäre gut, was hilfreich?
Ich glaube, wenn wir uns gemeinsam mit anderen auf die Suche nach Orientierung, nach Zielen machen, können wir viel gewinnen. Wenn wir dabei andere mit echtem Interesse zu Wort kommen lassen und sie nicht nur mit dem behelligen, was wir selber schon immer für richtig halten. Orientierung gewinnen durch echtes Fragen, durch Offenheit, durch Gespräch und durch gemeinsames Tun: Das kann den vor uns liegenden Weg erhellen und ihm Richtung geben.
Ja, wir brauchen Gemeinschaft. An Weihnachten stärken und beleben wir unsere Partnerschaften, unsere Familien und unsere Freundschaften neu. Wir besuchen uns, wir feiern zusammen oder senden Grüße. Wir wissen, wie unersetzlich für unser Leben verlässliche Weggefährten sind. Und wir wissen, dass wir - in leichten und in schweren Tagen - auf tragfähige Verbindungen vertrauen dürfen. Und dass man auch auf uns vertrauen darf: Die Bindungen, die uns Halt geben, sind genauso wichtig wie die, die uns in die Pflicht nehmen.
Weihnachten heißt auch Schenken und Beschenktwerden. Wir leben in großem Maße doch von dem, was wir uns nicht selber geben können. Das macht uns dankbar - und großzügig. Wir werden so selber Gebende, Helfende, Unterstützende. Wir wissen, wir werden gebraucht. Und wir wissen auch: Für andere da zu sein, das gibt unserem Leben Erfüllung und Sinn.
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, unsere Unterstützung und Solidarität gelten nicht nur denen, die uns räumlich ganz nahe sind. Wir denken auch etwa an die Ukrainerinnen und Ukrainer, gegen die Russland seit fast vier Jahren Krieg führt.
In den vergangenen Tagen wurde intensiv darum gerungen, Wege zu einem Ende des Krieges zu finden. Die meisten von uns werden die Geschehnisse erwartungsvoll, auch mit Skepsis und mit Sorgen verfolgt haben. Aber: Immer wieder gab und gibt es Zeichen von Hoffnung und Grund zur Zuversicht. Dazu gehört, dass wir uns als Europäer gemeinsam unserer Stärke und unserer Werte wieder neu bewusst werden und entsprechend handeln. In langen Jahrhunderten haben wir gelernt, wie wichtig, ja unverzichtbar Freiheit und Menschenwürde, gerechter Friede und demokratische Selbstbestimmung sind. Das geben wir nicht auf, nicht für uns, nicht für unsere Partner und Freunde. Vieles, was uns wertvoll und unverzichtbar erscheint, wird uns selbst einiges abverlangen. Dazu müssen wir bereit sein - und ich glaube, dazu sind wir bereit.
Die Pfadfinderinnen und Pfadfinder, die in jedem Jahr das "Friedenslicht aus Bethlehem" nach Deutschland tragen, haben ihrer Aktion in diesem Jahr das Motto gegeben: "Ein Funke Mut".
Das hat mich berührt und das hat mir sehr gefallen, als sie das Licht auch hierher ins Schloss Bellevue gebracht haben: "Ein Funke Mut". Das ist - finde ich - auch ein gutes Motto, ja ein Wunsch für uns alle. Wir brauchen Mut, um immer wieder neu anzufangen. Für die großen Dinge, die wir uns als Gesellschaft vornehmen - und für die kleinen Dinge, bei denen jede und jeder von uns sein Bestes gibt - für ein gutes Zusammenleben von uns allen.
Nichts Gutes ist zu klein, als dass es nicht die Welt ein Stück heller machen könnte.
In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen allen frohe und gesegnete Weihnachten!