Unter Feinden Die israelischen Mista'aravim-Soldaten
23.10.2022, 16:11 Uhr
Kefijes sind das traditionelle Tuch der Palästinenser.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Zu den Waffen der israelischen Spezialeinheit Mista'aravim gehören auch Kefije und Hidschab. Die Undercover-Truppe operiert und lebt unter den Palästinensern. Ihre Geschichte geht zurück in die Zeit vor der Staatsgründung Israels.
Im Sommer 1941, während des Zweiten Weltkriegs, kam es zu einer von britischen Truppen angeführten Offensive gegen das französisch kontrollierte Gebiet von Syrien und Libanon - wobei das Frankreich, das dieses Territorium verwaltete, das mit Deutschland verbündete Vichy-Regime war. Der sogenannte syrisch-libanesische Feldzug zielte darauf, Deutschland daran zu hindern, die Region für Angriffe auf den in Nordafrika tobenden Wüstenkrieg zu nutzen. Bei dieser Operation wurden auch zahlreiche Kämpfer des Palmach eingesetzt, einer Eliteeinheit der Hagana-Miliz, aus der später die israelischen Streitkräfte (IDF) entstanden.
"Um dem Feind zu schaden, führten wir verschiedene Sabotageakte durch", erzählt der 92-jährige Nissim Mizrahi während eines Vortrages im Palmach-Museum in Tel Aviv. "Wir sammelten Informationen, sprengten Brücken und Munitionsdepots." Der emeritierte Arabist stammt aus einer jüdischen Familie aus Damaskus und wanderte 1945 ins britische Mandatsgebiet Palästina aus. Mit 16 schloss er sich der Palmach an und wurde Mitglied ihrer arabischen Abteilung. "Durch mein orientalisches Aussehen und weil ich der Sprache mächtig war, war ich bei verschiedenen Undercover-Operationen dabei. Die Erfahrungen unserer Truppe waren auch später im israelischen Unabhängigkeitskrieg von Bedeutung."
Nachdem sich die IDF nach der Gründung Israels 1948 formiert hatte, wurde deren arabische Abteilung im Laufe der Jahre durch verschiedene Einheiten professionalisiert - darunter auch die Mista'aravim, die international durch die Netflix-Serie "Fauda" bekannt geworden sind. Der hebräische Begriff kommt vom arabischen "Musta'arabi", einem Wort für Juden, die im Nahen Osten und Nordafrika unter Arabern lebten. Die Spezialeinheit der IDF, auch bekannt als "Duvdevan" ("Kirsche") wird zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt sowie bei der nachrichtendienstlichen Aufklärung in feindlicher Umgebung.
"Erst werfen sie Steine, dann nehmen sie Demonstranten fest"
"Sie sehen aus wie wir, tragen dieselbe Kleidung, sprechen mit denselben Akzenten und Ausdrücken sowie der gleichen Körpersprache", sagt der Palästinenser Mohammad Sabbagh, Leiter des Volksdienstausschusses des Flüchtlingslagers Dschenin im Westjordanland. "Die Gesichter der Männer können mit karierten Kefijes und - bei den Frauen - mit einer Hidschab bedeckt sein." Sabbagh wurde Ende der 1980er Jahre von der verdeckt agierenden Truppe festgenommen worden, nachdem er zuvor einen israelischen Soldaten erstochen hatte. Dafür verbrachte er 23 Jahre in einem israelischen Gefängnis. Er hat der Gewalt abgeschworen, aber Umfragen zufolge befürworten mehr als 50 Prozent der Palästinenser bewaffnete Angriffe auf Israelis.
Dschenin ist in diesem Konflikt erneut zu einer Brutstätte des Terrors geworden. Mittlerweile haben sich Tausende junger Menschen militanten Gruppen angeschlossen. "Wir fürchten, dass unter ihnen auch Mista'aravim sind", erzählt Sabbagh. "Sie rufen zur Gewalt gegen Israel auf und werfen Steine in Richtung der IDF-Soldaten. Doch die Szene kann sich blitzschnell ändern, wenn sie aus dem Nichts Waffen herbeizaubern, diese plötzlich gegen den Rest der palästinensischen Demonstranten richten und die gesuchte Person in ein herbeifahrendes Auto zerren."
Viel ist nicht über die Einheit bekannt, da sie im Geheimen arbeitet. Hat eine Gruppe eine Operation durchgeführt, wird sie aufgelöst und eine neue nimmt ihren Platz ein. Nur die besten Soldaten und Soldatinnen dürfen als Mista'aravim dienen. Die 16-monatige Anti-Terror-Ausbildung besteht nicht nur aus hartem physischem Training, wie dem Erlernen von Krav Maga, dem Umgang mit unterschiedlichen Waffen sowie dem Verhalten in einer palästinensischen Umgebung. Auch Kriegsführung und das Perfektionieren der arabischen Sprache einschließlich Dialekten sowie Islam-Studien gehören dazu. Während ihrer Einsätze arbeiten sie mit dem israelischen Inlandsgeheimdienst Schabak zusammen. So waren die Mista'aravim in den letzten vier Jahrzehnten an zahlreichen Operationen und Kriegen beteiligt. Auch bei den jüngsten Gewaltausbrüchen in Israel und in den Palästinensergebieten wird auf ihre verdeckte Arbeit gesetzt.
Palästinenser versuchen, Mista'aravim-Agenten zu enttarnen
"Die meisten Palästinenser, die nachts davon träumen, Juden zu ermorden, finden sich am Morgen bei einer Schabak-Ermittlung wieder", erzählt A., ein Hauptmann der Mista'aravim. "Bei Einsätzen im Westjordanland haben wir zuletzt zahlreiche Terrorzellen ausgeschaltet und Verdächtige festgenommen." Gemeint ist Israels Reaktion auf eine tödliche Serie von Terroranschlägen im Frühjahr dieses Jahres, nach der die Militäroperation "Wellenbrecher" gestartet wurde.
Doch nicht immer sind die Mista'aravim bewaffnet. Häufig werden nur Informationen gesammelt. Bei der Truppe geht es nicht nur um Kampffähigkeit oder Tarnung. Wichtig ist es, unter Druck ruhig zu bleiben, um in der nächsten Sekunde den Feind zu überraschen. "So eine Situation hatten wir erst kürzlich in Dschenin", sagt Hauptmann A. "Die Operation dauerte nur zehn Minuten, doch militante Gruppen ließen einen Kugelhagel auf die IDF regnen und stellten Sprengfallen. Als der Hauptverdächtige flüchtete, wartete unsere als Hamas getarnte Gruppe auf ihn."
Natürlich gibt es bei den Mista'aravim auch Misserfolge. Militante Palästinensergruppen haben Einheiten gegründet, die israelische Agenten enttarnen sollen. "Das Terrain und die Realität verändern sich ständig", sagt Nissim Mizrahi, der 92-Jährige im Palmach-Museum. "Im scheinbar ausweglosen Nahost-Konflikt lernt jeder dazu, deshalb muss man nicht überrascht sein, sondern im Denken stets einen Schritt voraus."
Mizrahi setzt sich aber auch seit fünfzig Jahren für einen Ausgleich mit den Palästinensern ein. Er glaubt an die Zweistaatenlösung und fordert zugleich ein starkes Israel. "Denn durch weisen Ratschlag sollst du deinen Krieg führen", zitiert Mizrahi das Motto der Mista'aravim, einen der Sprüche Salomos aus der Tora, und fügt hinzu: "Frieden aber schließt man mit seinen Feinden."
Quelle: ntv.de