Theater im Westjordanland Dschenin - die tickende Zeitbombe
01.05.2022, 15:07 Uhr
Zwei Teilnehmer einer Beerdigung im April nahe Dschenin. Der Tote war ein 19-Jähriger, der bei Zusammenstößen mit der israelischen Armee ums Leben kam.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Die Stadt, die für Palästinenser als Symbol des Widerstandes gilt, ist für Israel eine Hochburg des Terrors. Trotz angespannter Lage hoffen Friedensaktivisten auf ein Ende des Konflikts.
Die palästinensische Theaterproduktion "Stolen Dream" erzählt von einem jungen Mann im Westjordanland, der ans Meer will. Absperrungen der israelischen Besatzer sowie Korruption in der palästinensischen Autonomiebehörde machen die Verwirklichung seines Traums unmöglich. Das Drama stammt von der Jugendschauspielgruppe des Freiheitstheaters im Flüchtlingslager in Dschenin und ist eine Hommage an seinen Gründer Juliano Mer Khamis.
Der Sohn einer israelischen Jüdin und eines christlichen Palästinensers, der in Kunst einen revolutionären Akt des gewaltfreien Widerstands sah, wurde 2011 vor dem Schauspielhaus von einem Islamisten erschossen. Trotz des Anschlages galt der Ort im Norden des Westjordanlands - der während der zweiten Intifada bis 2005 eine Hochburg der Selbstmordattentäter war - in den letzten Jahren als Musterbeispiel für den Aufschwung palästinensischer Städte. Mittlerweile hat er sich erneut zum Zentrum militanter Gruppen entwickelt. Von den jüngsten Anschlägen in Israel, bei denen 14 Menschen getötet wurden, stammten zwei Attentäter aus Dschenin.
"Dschenin gleicht einem verwelkten Baum", sagt Ahmad al-Tubasi, der künstlerische Leiter des Freiheitstheaters. "Das Wirtschaftswachstum hat die politische Situation übertüncht." Tatsächlich kamen die Veränderungen in der mit 50.000 Einwohnern kleinen Stadt nicht plötzlich. Zwar ist sie einer der konservativsten im Westjordanland, doch die ökonomische Verbesserung entspannte die Situation, da es den Terrorismus entwurzelte. Corona beendete diese Erfolgsgeschichte. Aus Angst vor einer Ausbreitung der Pandemie schloss Israel die Kontrollpunkte und niemand konnte mehr in die Palästinensergebiete ein- oder ausreisen. Dadurch fehlten die Devisen der israelischen Araber, die sonst zum Einkaufen nach Dschenin kamen. Auch durften Palästinenser nicht mehr zum Arbeiten nach Israel, was den Unmut verstärkte und radikalen Kräften - wie Hamas, dem Islamischen Dschihad und den wiedererwachten Al-Aksa-Brigaden - in die Hände spielte.
Theater als Therapie
"Die Vergangenheit wird in der Zukunft gegenwärtig sein", sagt al-Tubasi auch. Die staubigen Gassen um das brüchige Bahndepot aus der britischen Mandatszeit werden von bewaffneten Milizionären kontrolliert, die schiefen Hauswände hier sind mit Postern unzähliger "Märtyrer" bedeckt. Die Kulturstätte, die in der Kritik steht, der antisemitischen BDS-Bewegung nahezustehen, wird von vielen aus therapeutischen Gründen aufgesucht. "Wir arbeiten mit den Menschen daran, einen alternativen Weg zu wählen", erzählt al-Tubasi. "Es soll ihnen ermöglichen, sich dem Terror zu widersetzen, um etwas anderes als ein Märtyrer zu sein."
Für die Palästinenser gilt das Flüchtlingslager in Dschenin als Symbol des Widerstands. Jordanien errichtete es 1953 für vertriebene und geflohene Palästinenser des ersten Nahostkriegs 1948. Nach dem Sechstagekrieg 1967, als Israel das Westjordanland eroberte, kam die Stadt bis 1996 unter israelische Kontrolle, bevor sie im Rahmen der Oslo-Abkommen an die palästinensische Autonomiebehörde übergeben wurde. Da die PA in großen Teilen ihres Herrschaftsgebiets als korrupt verhasst ist und viele Städte nicht kontrollieren konnte, entstand ein Vakuum, das von radikalen Kräften gefüllt wurde. Auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada 2002 starteten die israelischen Streitkräfte die "Operation Schutzschild", die den Terror zwar eindämmen, aber nicht vollständig unterbinden konnte. Erst mit dem Bau der Sperranlage, die Israel von Palästinensergebieten trennt, wurde die Zahl der Anschläge deutlich reduziert.
Aufklärung und Feminismus
Ausgelöst durch die jüngste Terrorwelle in Israel, riegelte die israelische Armee das Westjordanland erneut ab. Bei vielen Razzien kam es zu Kämpfen mit gut organisierten bewaffneten Gruppen, bei denen einige getötet und viele verhaftet wurden. "Unsere Operation überraschte die Terroristen, die mit den Anschlägen in Verbindung standen", sagt Oberstleutnant Matan Feldman, Aufklärungskommandant einer israelischen Brigade. Unterstützt wurden sie von Einheiten, die den zerstörten Sicherheitszaun absicherten. Die 759 Kilometer lange Sperranlage wurde nicht fertiggestellt, an manchen Stellen finden Palästinenser Schlupflöcher, um nach Israel zu gelangen - entweder, um Arbeit zu finden oder aber auch, um Anschläge auszuführen. Berichten zufolge sollen radikale Kräfte dafür 300 US-Dollar anbieten. "Terrorismus kann man nicht besiegen," sagt Oberstleutnant Feldman. "Durch verbesserte Aufklärung können wir aber seinen Aufschwung verhindern."
Dass es auch miteinander geht, zeigt die Israelin Lily Traubman vom Kibbuz Megiddo unweit der Sperranlage in der Nähe von Dschenin. Die aus Chile stammende Rehabilitationstherapeutin schloss sich während der ersten Intifada 1988 der Bewegung "Frauen in Schwarz" an, um gegen die israelische Besatzungspolitik zu demonstrieren. "Ich kontaktierte palästinensische Frauenbewegungen in Dschenin," erzählt die Friedensaktivistin. "Dort kam unser Echo gut an und so schlossen wir uns zusammen."
"Die Palästinenser sind müde"
Die Frauenrechtlerin ist überzeugt, dass Feminismus etwas Universelles hat, das es ihnen ermöglicht, Lücken zu schließen, um gemeinsame Projekte zu ermöglichen. Auch glaubt sie, dass Frauen den Friedensprozess vorantreiben und einen vielseitigen Aspekt einbringen können, um den Nahostkonflikt zu beenden. "Gegenseitiger Respekt ist unsere Aufgabe", sagt Traubman. "Wir brauchen eine offenere Sichtweise, basierend auf demokratischen Werten."
Es gibt Menschen im Westjordanland, die diese Position teilen. Nach jahrzehntelanger Besatzung, Islamismus und Terror wollen sie Veränderung. "Die Palästinenser sind müde", sagt Ahmad al-Tubasi vom Freiheitstheater in Dschenin. "Die Menschen brauchen einen Wandel. Sie träumen von Freiheit, Wohlstand und einem Ende der Gewalt." Er ist überzeugt, dass beide Völker ein Recht auf dieses Land haben, und wünscht sich eine Wiederbelebung des Friedensprozesses. Er setzt auf das umstrittene Konzept der "Einstaatenlösung", einem gemeinsamen Staat für Israelis und Palästinenser. "Föderalismus heißt die Formel", glaubt er. "Denn irgendwann kommt die Zeit, wo der Hass aufhören muss."
Quelle: ntv.de