Expertin Franke im Interview "Drohnenangriffe auf Moskau sind Katz-und-Maus-Spiel"
06.09.2023, 19:05 Uhr Artikel anhören
Die Ukraine stellt eigene Drohnen her und testet sie auf dem Kampffeld.
(Foto: picture alliance / AA)
Die ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Gebiet nehmen rasant zu. Damit bezwecke Kiew vor allem eine Signalwirkung an die russische Bevölkerung, sagt Drohnenexpertin Ulrike Franke im Interview. Dass es bei den Angriffen bisher noch keine Opfer gegeben hat, könnte Absicht sein: "Die Gemeinheit dieses Krieges ist, dass die Ukrainer einen saubereren Krieg führen müssen als die Russen." Welche Rolle Pappkarton-Drohnen bei den Angriffen spielen und warum die detonierten Drohnen in Rumänien "nicht sonderlich erstaunlich" sind, erklärt Franke im Interview.
ntv.de: Fast täglich meldet Russland ukrainische Drohnenangriffe. Allein in der vergangenen Woche sollen fast 300 ukrainische Drohnen abgeschossen worden sein. Hat Sie diese plötzliche Angriffswelle auf russisches Territorium überrascht?

Dr. Ulrike Franke promovierte über Drohnen und arbeitet derzeit beim European Council on Foreign Relations in Paris.
Ulrike Franke: Es sieht zumindest so aus, als würden wir einen Wandel in der ukrainischen Taktik sehen. Die Ukraine hat im Bereich Drohnen in den vergangenen anderthalb Jahren sehr viel Fähigkeiten entwickelt. Dass sie in der Lage ist, auch Ziele in Russland anzugreifen, hat mich deshalb nicht überrascht. Mir scheint es eher so, als hätte man sich spezifisch dafür entschieden, jetzt mehr Angriffe zu starten, vielleicht als eine Art zweite Front in der Gegenoffensive. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass sie jetzt mehr Drohnen zur Verfügung haben als am ersten Tag des Krieges. Aber in erster Linie ist das eine politische Entscheidung.
Was ist das Ziel dieser Angriffe?
Zum einen, militärische Ziele zu zerstören, beispielsweise russische Flugzeuge oder Munitionsdepots. Es ist für die Ukraine natürlich fantastisch, wenn sie ein Transportflugzeug oder einen Superschallflieger mit einer Drohne zerstören kann. Der militärische Schaden ist trotzdem begrenzt. Ich glaube deshalb eher, dass sie damit ein Signal senden will.
Nämlich welches?
Man will den Russen zeigen: "Ihr seid im Krieg und es kann auch euch treffen". Es zeigt zudem, dass das russische Militär nicht unbedingt in der Lage ist, die Bevölkerung vor solchen Angriffen zu schützen.
Vergangene Woche gab es Berichte von russischen Kriegsbloggern, die sich beschwert haben, dass die russische Luftabwehr nicht in der Lage sei, die russische Bevölkerung zu schützen. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine Drohne ihr Ziel trifft und Zivilisten verletzt oder gar tötet?
Nicht alle Drohnen wurden von den Russen abgefangen, manche haben ihr Ziel durchaus erreicht. Aber selbst, wenn sie abgeschossen werden, können herabfallende Trümmer Menschen treffen. Die Frage ist eher, welche Durchschlagskraft diese Angriffe haben sollen. Es ist klar, dass die Ukraine Tote zumindest in Kauf nimmt. Man kann nicht eine bewaffnete Drohne auf Gebiete mit Leuten schicken und denken, dass da nichts passiert. Die Tatsache, dass bei den Angriffen noch niemand gestorben ist, könnte aber darauf hindeuten, dass es die Ukrainer zumindest nicht darauf anlegen. Es gab zum Beispiel viele Angriffe auf Geschäftszentren in der Nacht, wenn dort niemand ist. Den Ukrainern ist sehr bewusst, dass sie vorsichtig sein müssen. Das ist die Gemeinheit dieses Krieges, dass sie einen saubereren Krieg führen müssen als die Russen. Wenn sie anfangen würden, systematisch zivile Ziele anzugreifen und Zivilisten zu töten - was Russland seit Kriegsbeginn macht - würde das die Ukraine international Unterstützung kosten.
Muss Moskau sich künftig besser gegen solche Angriffe wappnen?
Wenn die Ukraine mit den Drohnenangriffen weitermacht, ist es wie ein Katz-und-Maus-Spiel. Es stellt sich die Frage, ob Moskau die Flugabwehr umstrukturieren, verstärken und am Ende vielleicht sogar Equipment von der Front zurückholen muss. Die Ukraine hat über die vergangenen Jahre gelernt, wie man Drohnen abfängt - das wird Russland auch noch mehr lernen müssen.
Welche Drohnen benutzt die Ukraine für ihre Angriffe?
Ausgehend von dem, was wir wissen, benutzen sie verschiedene Typen. Das basiert aber alles auf körnigen Videos, Analysen und eigenen Aussagen. Es gibt mindestens zwei Drohnen aus ukrainischer Herstellung, die UJ-22 und "Bober", die wohl für die Angriffe genutzt wurden. Und dann gab es in letzter Zeit Meldungen über eine Pappkarton-Drohne, die auf russischem Gebiet geflogen ist.
Besteht die wirklich aus Karton, wie der Name sagt?
Eigentlich ist das gar nicht so wahnsinnig erstaunlich. Die Australier haben diese Drohnen schon im März an die Ukraine geschickt. Die meisten Drohnen sind nichts anderes als ein möglichst leichter Flugkörper. In der Regel ist der aus Hartplastik oder auch Styropor. Diese Drohnen sind aus Karton, weil es ein leichtes Material und relativ widerständig ist, wenn man es vernünftig entwickelt. Das System ist einfach zusammenzubauen und billig. Dafür wurden sie auch entwickelt, nicht speziell für die Ukraine. Der Clou an solchen Systemen ist zudem, dass sie eine kleine Radarsignatur haben.
Das bedeutet, man kann sie nicht so leicht erkennen?
Genau. Je weniger Metall verbaut ist, desto weniger ist auf dem Radar zu sehen. Allerdings haben auch die Kartondrohnen Rotoren und einen Motor, insofern sind sie nicht unsichtbar. Ich weiß nur nicht, ob und wie viele Stunden sie durch den Regen fliegen können, bevor es problematisch wird.
Es ist auch nur schwer vorstellbar, dass sie genug Kraft haben, viel Sprengstoff zu tragen.
Ja, es ist schon eine kleine Drohne, was weniger Reichweite und weniger Tragfähigkeit bedeutet. Sie trägt etwa sechs Kilogramm Sprengstoff und fliegt auch nicht Hunderte Kilometer weit. Sie werden aber immer fähiger. Das Material ist allerdings gar nicht das Interessanteste an den Drohnen.
Sondern?
Viel relevanter ist, dass es australische Drohnen sind, die russisches Territorium angreifen. Es wird zwar vermutet, dass die Ukrainer die Drohne nachgebaut haben, aber das ist nicht sicher. Aber wenn es die von Australien gelieferten Geräte sind, dann werden westliche Drohnen auf russischem Territorium eingesetzt. Australien scheint sich noch nicht darüber beschwert zu haben, aber das ist zumindest interessant, denn bisher hat die Ukraine vor allem versucht, Drohnen eigener Herstellung einzusetzen. Und es ist für sie auch ein Zeichen der Stärke, dass sie es in den vergangenen anderthalb Jahren Krieg geschafft haben, neues militärisches Equipment zu entwickeln.
Die Ukraine hat auch russische Ziele wie den Flughafen Pskow nahe der Grenze zu Estland angegriffen - mehr als 700 Kilometer von der Ukraine entfernt. Haben die Drohnen eine solch hohe Reichweite?
Es gibt eine unglaubliche Bandbreite von Drohnen und auch solche, die weit fliegen können. 700 Kilometer sind schon ganz schön gut. Die Frage ist aber, wo sie gestartet wurden. Es ist plausibler, dass dies auf ukrainischem Boden geschah. Der russische Informationschef hat allerdings gesagt, dass sich ukrainische Kräfte auch in Russland aufhalten würden. Die Entfernung ist aber nicht unbedingt die größte Herausforderung, sondern die Steuerung und das Funksignal über eine so weite Strecke. Ich weiß nicht, wie die Ukrainer das machen - das könnte per Satelliten sein, was auf westliche Unterstützung hindeuten könnte, oder mit Relay-Drohnen.
Was sind Relay-Drohnen?
Dabei werden zwei oder mehr Drohnen hochgeschickt, die Funksignale in einer Kette weiterleiten. Also eine Drohne fliegt vielleicht 300 Kilometer weit, und leitet das Signal dann auf die andere Drohne um, die 700 Kilometer weit fliegt.
Wie kommt es, dass die Drohnen auf ihrem 700 Kilometer langen Weg nicht über russischem oder belarussischem Gebiet gesichtet oder abgeschossen werden?
Gerade Drohnen sind eher klein, zumindest in der Regel kleiner als bemannte Flugzeuge. Sie fliegen auch niedriger. Sie haben zudem eine andere Radarsignatur und fliegen langsamer. Viele Systeme, die den Luftraum überwachen, sind nicht unbedingt darauf kalibriert, so etwas zu entdecken. Außerdem wird nicht das komplette Gebiet überwacht. Zwischen der ukrainischen Grenze und Moskau gibt es viel Land.
Sprechen wir mal über die Drohnenangriffe von russischer Seite, die gibt es schließlich auch jeden Tag. Die greifen zurzeit massiv ukrainische Getreidesilos nah an der rumänischen Grenze an und sollen auch im NATO-Land detoniert sein. Können sich Drohnen so verirren?
Russland überzieht die Ukraine seit Kriegsbeginn mit iranischen Kamikaze-Drohnen, die auch keine wahnsinnig spezialisierten Systeme sind. Es ist deswegen nicht sonderlich erstaunlich, dass die auch mal woanders landen. Ich würde deshalb nicht davon ausgehen, dass die dort hingeschickt wurden. Gerade abgeschossene Drohnen können irgendwo herunterkommen. Die meisten Experten gehen deswegen von einem Unfall aus. Rumänien versucht das herunterzuspielen, weil kein Verteidigungsfall kreiert werden soll.
Es wäre also auch kein NATO-Verteidigungsfall?
Das ist es sowieso nicht. Mit Blick auf den NATO-Artikel 5 müsste es erst Angriffe geben und dann müsste das angegriffene Land um Hilfe bitten. Davon sind wir weit entfernt. Es gibt keinen Automatismus, dass nach der Landung einer russischen Drohne auf NATO-Territorium der Dritte Weltkrieg ausbricht. Daran hat auch die Ukraine kein Interesse.
Mit Ulrike Franke sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de