Grüner Wahlbeobachter in Türkei "Erdoğan wird Europa seinen Bizeps zeigen"
02.11.2015, 18:46 Uhr
Der türkische Präsident Erdogan und seine Tochter Sumeyye Erdogan (2.v.l.) lassen sich nach dem Morgengebet in Istanbul fotografieren.
(Foto: AP)
Die türkische Regierungspartei hat die Wahl gewonnen, weil sie den Menschen Angst gemacht hat, sagt der Grüne Özcan Mutlu, der die Wahl in Istanbul beobachtet hat. Und er fragt: "Warum haben wir die Türkei nicht rechtzeitig in die EU integriert?"
n-tv.de: Das Ergebnis der Wahl hat alle Beobachter überrascht. Sie auch?

Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu ist seit 2013 Mitglied des Bundestags.
(Foto: @oeczanmutlu)
Özcan Mutlu: Ich war mehr als überrascht, weil die Demoskopen durch die Bank andere Ergebnisse prognostiziert hatten und ich auch bei all meinen Gesprächen in Istanbul einen ganz anderen Eindruck hatte.
Warum lagen die Demoskopen so daneben?
Das dürfte Stoff für mehrere Doktorarbeiten liefern. Die Erklärung, die ich habe, ist, dass die Menschen Angst vor dem wiederentfachten Terror und vor einem wirtschaftlichen Niedergang hatten. Der AKP ist es gelungen, den Menschen zu suggerieren, dass es die Anschläge und den Verfall der türkischen Lira nicht gegeben hätte, wenn sie bei der Wahl im Juni nicht die absolute Mehrheit verloren hätte. Ohne AKP-Alleinregierung, so die Botschaft, würde das Chaos weitergehen. Das ist keine Spekulation von mir, das hat der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu im Wahlkampf deutlich gesagt.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Es gibt in der Türkei eine Automarke, die weißen Toros. In den achtziger Jahren, in der Zeit der Militärdiktatur, haben Geheimdienstler Fahrzeuge dieser Marke genutzt, wenn sie Menschen verschleppten, von denen man später nie wieder hörte. Davutoğlu sagte im Wahlkampf, wenn wir nicht gewählt werden, kommen die weißen Toros zurück. Damit wollte er den Menschen Angst machen.
Sie waren der einzige deutsche OSZE-Wahlbeobachter in der Türkei. Ist alles mit rechten Dingen zugegangen?
Ich habe in Istanbul beobachtet und dort keinerlei Irregularitäten festgestellt. Der einzige Unterschied im Vergleich zur Wahl im Juni war: Damals wurden wir überall freundlich empfangen. Dieses Mal wurden wir mit Argwohn begrüßt, man hat unsere Ausweise nicht anerkannt, einmal wurde sogar die Polizei gerufen, um uns aus dem Wahllokal rausschmeißen zu lassen.
Und, wurden Sie rausgeworfen?
Die Polizei hat natürlich nichts dergleichen getan, wir waren ja auf Einladung der Türkei da. Aber die Spannung und Gereiztheit in den Wahllokalen war deutlich zu spüren. Diejenigen, die uns kritisiert und bei der Arbeit behindert haben, waren durchgehend AKP-Anhänger.
Welche Rolle spielt die Opposition? Ist sie zu schlecht, um eine Alternative zur AKP von Präsident Erdoğan zu sein?
Die Türkei ist absolut gespalten: Entweder gehört man dazu oder man gehört zum Feind. Dieses Schwarz-Weiß-Denken konnte die Opposition leider nicht durchbrechen. Zugleich versteht die Opposition ganz offensichtlich die Sprache der Menschen auf der Straße nicht und hat keine Antworten auf ihre Bedürfnisse. Dazu kam ein Versagen im Wahlkampf: Mitten in Ankara rissen zwei Selbstmordattentäter hundert Menschen in den Tod – in einem Land, das vom Sicherheitsapparat vergleichsweise eng kontrolliert wird! Trotzdem hat die Opposition im Wahlkampf nicht deutlich gemacht, dass dies auch eine Folge des Versagens der Behörden und der Regierung ist. Der einzige Lichtblick ist, dass die prokurdische HDP trotz massiver Bedrängnis die Zehnprozenthürde knapp übersprungen hat.
Was folgt für Präsident Erdoğan aus dem Wahlsieg?
Es ist ja nicht das erste Mal, dass die AKP die absolute Mehrheit erringt, bis zur Wahl im Juni hatte sie 13 Jahre lang eine absolute Mehrheit. Daher weiß man, was Erdoğan aus Wahlerfolgen macht: Er ist kein Regierungschef oder Staatschef, der Opposition oder Andersdenkenden die Hand reicht, das Gegenteil ist der Fall: Wer nicht zu Erdoğans Gefolgschaft gehört, wird ausgegrenzt. Das wird dieses Mal nicht anders laufen, vielleicht sogar schlimmer. Hoffentlich irre ich mich. Davutoğlu ist der neue starke Mann der AKP, der hat so ein bisschen die deutsche Schule durchlaufen. Ich hoffe, dass irgendwo in ihm ein Impuls schlummert, auf die Opposition zuzugehen. Was die Türkei braucht ist Frieden und Ruhe – keine weitere Konfrontation. Eigentlich müssten wir uns in Europa aber fragen, was der AKP-Wahlsieg für uns bedeutet.
Was bedeutet er für uns?
Von Bundeskanzlerin Merkel war es ein großer Fehler, kurz vor der Wahl nach Istanbul zu fahren. Die regierungsnahen Medien haben das als Wahlkampfhilfe ausgeschlachtet. Dann kam es noch schlimmer: Die EU hat den Fortschrittsbericht zur Türkei nicht veröffentlicht, weil darin die Unterdrückung der Medien und die faktisch nicht vorhandene Gewaltenteilung kritisiert wurde. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger vor zweieinhalb gesagt hat, er würde wetten, "dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt mit dem Kollegen aus Paris auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türkei zu bitten, Freunde kommt zu uns". Das wird kommen! Erdoğan wird Europa jetzt seine Bizeps zeigen.
Für die EU bedeutet der Wahlsieg aber auch, dass ein europäisch-türkisches Abkommen über die Rücknahme von Flüchtlingen leichter geworden ist.
Die Türkei hat 80 Millionen Einwohner. Für unser Rückkehrabkommen, für unsere Ruhe sehen wir zu, wie in der Türkei universelle Werte – Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit – mit Füßen getreten werden. Ist das das Europa, das Sie sich vorstellen? Ich nicht! Ich will vor den Toren Europas keinen Staat, der Menschenrechte missachtet, und dabei meinen Mund halten, nur weil die Türkei in der Flüchtlingsfrage eine Hilfe ist. Europa sollte sich vielmehr die Frage stellen: Warum haben wir die Türkei nicht rechtzeitig in die EU aufgenommen und integriert? Wäre das Land heute EU-Mitglied, hätten wir eine ganz andere Situation. Dann wäre es viel leichter, die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegungen zu meistern. Aber nein, man hat die Türkei jahrzehntelang hingehalten. Der Fehler rächt sich jetzt.
Mit Özcan Mutlu sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de