Leben im Krieg "Es gibt keine Angst mehr"
17.12.2022, 06:08 Uhr
Das zerstörte Gebäude in Irpin, in dem Elison wohnt.
(Foto: Privat)
Als Russland die Ukraine überfiel, war die 23-jährige Elison Diez im Ausland. Sie kehrte zurück, obwohl ihre beiden Heimatstädte von den Russen zerstört wurden. Und sie will bleiben, obwohl der Ukraine ein harter Winter bevorsteht. "Ich weiß nicht, ob Belarus in den Krieg eintreten wird, ob es einen neuen Angriff auf Irpin geben wird", sagt sie. "Aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich nicht vor dem Krieg weglaufen werde."
ntv.de: Wo warst du, als die russische Invasion in der Ukraine begann?
Elison Diez: Ich war im Ausland, in Italien. Ende November 2021 bin ich in Charkiw ins Flugzeug gestiegen und dachte, ich würde sechs Monate später zurückkehren. Aber der Krieg hat die Pläne aller Ukrainer verändert, auch meine.
Dein Mann ist in Charkiw geblieben?
Ja, mein Mann Serhii und unsere Katze. Sind nach der Invasion noch sechs Monate in Charkiw geblieben. Serhii wollte nicht weg. Er half dort als Freiwilliger und sagte, er würde die Stadt nicht verlassen, solange er den Menschen nützlich sein könne. Aber als ich zurückkehren wollte, verbot er mir, nach Charkiw zu kommen. Er machte sich Sorgen um mich, weil die Stadt jeden Tag unter Beschuss steht. Also vereinbarten wir ein Treffen in Kiew. Heute leben wir seit einigen Monaten in Irpin, in dieser Wohnung.
Irpin ist der Vorort von Kiew, in dem die Russen Kriegsverbrechen verübt haben.
Als wir nach Irpin kamen, war die Stadt schon befreit. Ich hatte dort 2019 eine Wohnung gekauft und wollte dort hinziehen, aber dann habe ich in Charkiw meine Liebe gefunden und mich auch in die Stadt verliebt. Mitte 2019 bin ich nach Charkiw gezogen. Die Wohnung in Irpin habe ich renovieren lassen und wollte sie eigentlich vermieten.
Steht die Wohnung noch?
Mein Wohnkomplex besteht aus zwei Gebäuden. Jedes Gebäude hat 12 Stockwerke. Meine Wohnung liegt im 6. Stock.
Wie stark wurde deine Wohnung getroffen?
Das Haus, in dem die Wohnung liegt, stand in der ersten Verteidigungslinie von Irpin. Hier gab es Straßenschlachten. Eine feindliche Rakete traf das Gebäude direkt nebenan, Feuer brach aus. Einige der oberen Stockwerke sind einfach weg. Im Vergleich habe ich Glück gehabt. Aber verkaufen kann ich die Wohnung so nicht mehr. Als wir ankamen, gab es keine Fenster, die Rahmen waren beschädigt, die Wände und die Decke im Schlafzimmer hatten Löcher wie ein Sieb, in den Möbeln und Türen steckten viele Splitter, es gab Einschusslöcher. Auch ein paar Wände wurden eingerissen.
Was hast du gefühlt und gedacht, als du von der Bombardierung von Irpin erfahren hast?
Die Wohnung besteht nur aus Ziegeln, Putz, Tapeten und Holz. Sie kann wiederhergestellt werden. Aber die beiden Städte Irpin und Charkiw, die ich von ganzem Herzen liebe und an die ich die besten Erinnerungen habe, wurden mit besonderer Grausamkeit zerstört. Ich habe mir Sorgen um meine Freunde und Verwandten gemacht. Ich schrieb an Bekannte, an Lehrer, an Angehörige. Ich wollte keine Menschen verlieren. Es war wichtig für mich zu hören, dass sie am Leben und in Sicherheit sind. Als die Bombenangriffe begannen, habe ich verstanden und gespürt, was Hass auf den Feind bedeutet. Und ich habe auch verstanden, was Hilflosigkeit ist. Ich war niedergeschlagen, ich wollte nur noch aufwachen aus diesem Alptraum.
Wurde deine Wohnung geplündert?
Alle Eingangstüren zu den Wohnungen in unserem Gebäude waren kaputt. Aber ich hatte Glück: Weil die Wohnung zum Verkauf stand, war nicht viel drin außer den Einbaugeräten. Deshalb haben die Russen nicht geplündert, sondern nur ihren Hass und ihren Neid ausgelebt. Sie haben Türen aufgetreten - wir haben den Schmutz von ihren Stiefeln an den Zimmertüren gefunden. Auch an den Wänden gab es diese Spuren. Sie haben das Bett zerstört und in den Küchenschrank geschossen - solche Dinge. Weil sie nichts zum Mitnehmen fanden, mussten sie offenbar zerstören.
Wie ist es den Nachbarn ergangen?
Als die Invasion begann, forderten die Behörden die Menschen auf, die Stadt zu verlassen. Unsere Nachbarn sind gegangen. Das hat sie gerettet. Keiner von ihnen wurde verletzt.
Gibt es jetzt Strom-, Wasser- und Gasversorgung, Mobilfunk- und Internetverbindungen in der Stadt?
Russland übt derzeit einen regelrechten Terror gegen die Zivilbevölkerung aus. Jede Woche wählen sie einen Tag aus und führen einen massiven Angriff auf kritische Infrastrukturen durch. Unsere Regierung stellt sie dann wieder her. Und in der nächsten Woche passiert es wieder. Deshalb haben wir bereits mehrere Tage ohne Licht, Wasser, Heizung und Kommunikation zugebracht. In einem "normalen" Fall haben wir einen Zeitplan für sogenannte rollende Stromausfälle. In der Tat ist es ein Glücksfall, wenn die gesamte Kommunikation vier bis sechs Stunden am Tag funktioniert. Aber glaub mir, das macht uns keine Angst. Wir werden nur noch wütender auf Russland, sammeln mehr Geld für unser Militär und glauben an unseren Sieg. Denn nur Terroristen und unglückliche Menschen, die in die Enge getrieben werden, sind zu solchen Handlungen fähig. Sie dachten, sie würden uns brechen, aber sie haben uns noch mehr geeint.
Was machst du jetzt? Wie sieht dein Leben momentan aus?
Jetzt wohnen wir in Irpin in dieser beschädigten Wohnung. Ich arbeite in Kiew als Model und Assistentin einer Stylistin. Aber natürlich gibt es viel weniger zu tun als früher. Und ich mache Freiwilligenarbeit, denn ich will mich nützlich machen. Wir kaufen Generatoren, Heizgeräte und Munition und schicken sie an unsere Verteidiger.
Hast du Pläne? Was willst du als Nächstes tun?
Erst einmal plane ich, den Winter zu überleben, denn der wird sehr hart sein. Wir können keine Pläne machen, weil wir nicht wissen, was heute oder morgen passieren wird. Ich weiß nie, welches Haus von einer Rakete oder einer Splittergranate getroffen wird und wo ich oder meine Familie zu diesem Zeitpunkt sein werden. Diese Ungewissheit und das Unbekannte machen mir am meisten Angst.
Ich werde die Wohnung wiederherstellen, aber erst nach unserem Sieg. Jetzt macht es keinen Sinn. Der Krieg ist noch nicht vorbei. Ich würde lieber Geld verdienen und es für die Bedürfnisse der Armee ausgeben, als die Wohnung zu renovieren, die jeden Moment zerstört werden kann. Das Einzige, was wir jetzt getan haben, ist, Fenster zu bestellen und einzubauen, eine Matratze zum Schlafen und einen Tisch mit Stühlen zum Essen zu kaufen. Alles andere kann warten.
Hast du Angst?
Im Prinzip gibt es keine Angst mehr. Als ich im Ausland war, machte ich mir Sorgen um meine Familie und war viel gestresster als bei meiner Rückkehr nach Hause. Ich habe keine Angst um mein Leben. Als ich vor dem Krieg ins Ausland ging, war ich erst 22. Jetzt bin ich 23, aber wie alle anderen in der Ukraine auch, bin ich um mindestens zehn Jahre gealtert. Ich weiß nicht, ob Belarus in den Krieg eintreten wird, ob es einen neuen Angriff auf Irpin geben wird. Aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich nicht vor dem Krieg weglaufen werde. Das hier ist meine Heimat, mein Land. Hier fühle ich mich selbst im Chaos ruhig.
Mit Elison Diez sprach Maryna Bratchyk
Quelle: ntv.de