Nachwahlbefragungen in USA "Exit Polls" haben 2020 kaum Aussagekraft
04.11.2020, 02:20 Uhr
In diesem Jahr gehen weit weniger US-Bürger ins Wahllokal, um zu wählen.
(Foto: AP)
Mit Spannung werden am Wahltag die ersten Prognosen aus den einzelnen Bundesstaaten erwartet - doch vor allem in diesem Jahr könnten sie in die Irre führen. Denn Grundlage für die ersten Hochrechnungen sind auch die Angaben von Wählern vor den Wahllokalen. Und das birgt einige Probleme.
Am Wahltag stützen sich die Meinungsforschungsinstitute in den USA für die ersten Prognosen auch auf Nachwahlbefragungen. Sie sind eigentlich ein Mittel, um die Zusammensetzung und Stimmungslage der Wählerschaft zu analysieren - und zwar im Nachgang der Wahl. Welcher der Kandidaten wurde zum Beispiel vor allem von Jüngeren gewählt? Wen wählten mehr Frauen als Männer? Wer hatte bei den Afro-Amerikanern die Nase vorn? Und warum? In der medialen Berichterstattung am Wahltag gelten die "Exit Polls", wie sie im Englischen genannt werden, aber auch als Hinweis auf den Ausgang der Wahl - dabei sind sie eigentlich mit Vorsicht zu genießen. Insbesondere in diesem Jahr haben sie nur bedingt Aussagekraft. Die Gründe sind vielfältig:
- Für Nachwahlbefragungen postieren sich Interviewer vor den Wahllokalen und befragen die herauskommenden Wähler, für welchen Kandidaten oder welche Partei sie abgestimmt haben und warum. Sie geben aber nicht in Echtzeit wieder, wie groß die Unterstützung für einen Kandidaten ist, sondern zeichnen nur ein Lagebild für einen bestimmten Zeitraum. Die Zustimmung für einen Kandidaten kann also morgens größer sein als abends - denn in der Regel machen etwa ältere Menschen eher früh am Tag ihr Kreuz, während Jüngere später wählen gehen. Vor allem die ersten Prognosen nach Schließung der Wahllokale sind deshalb nicht unbedingt aussagekräftig, denn sie bilden womöglich eine bestimmte Gruppe der Wählerschaft stärker ab als eine andere.
- Je mehr Daten aus den Interviews zur Verfügung stehen, desto repräsentativer werden sie zwar - doch Unsicherheiten bleiben auch wegen der Gewichtung der Daten vonseiten der Forschungsinstitute, die ihre Verfahren dazu nicht öffentlich machen. In der Regel nutzen sie für ihre Prognosen statistische Modelle, die auch die Abstimmungsdaten früherer Wahlen - wie etwa die Stimmverteilung auf Demokraten und Republikaner - berücksichtigen. Grundlage dieser Verrechnung von Daten ist die Erfahrung, dass Wähler in der Regel über viele Jahre ihrer Partei treu bleiben. Diese Gewichtung kann sich allerdings ändern, je mehr Daten am Wahltag verfügbar werden.
- Laut der American Association for Public Opinion Research sind die Interviewer, abhängig von der Anzahl der zu erwartenden Wähler in ihrem Wahllokal, dazu angehalten, jeden dritten bis fünften Wähler zu befragen. Bei früheren Wahlen hat sich gezeigt, dass die Entfernung der Interviewer zu Wahllokalen einen Einfluss auf die Antwortrate von Wählern hatte. Steht ein Interviewer zu weit weg, kann er erfahrungsgemäß weniger Menschen dazu bewegen, noch einmal Fragen zu ihrer Stimmabgabe zu beantworten - und darunter leidet wiederum die Repräsentativität. Dennoch legen einige Bundesstaaten den Interviewern Entfernungsbeschränkungen von bis zu 23 Metern auf.
- Der Faktor, der bei dieser Wahl aber am stärksten gegen die "Exit Polls" spricht, sind die nicht berücksichtigen Briefwähler. Deren Zahl ist wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr besonders hoch - fast 100 Millionen Amerikaner haben per Brief abgestimmt. Sie fehlen den Interviewern vor den Wahllokalen als Stimmungsbarometer. Erwartet wird zudem, dass vor allem republikanische Wähler in die Wahllokale gehen. Einer NBC/WSJ-Umfrage zufolge wollten vor der Wahl nur 11 Prozent der Trump-Anhänger per Brief wählen, aber 47 Prozent der Biden-Anhänger. Die "Exit Polls" könnten deshalb also eher zu einem Trump-Sieg tendieren.
- Um dieses Problem zu entschärfen, führen die Meinungsforscher von Edison Research laut einem Bericht von FiveThirtyEight, einem auf Statistik- und Datenjournalismus spezialisierten News-Portal, auch Telefonumfragen durch und befragen sogenannte Early Voter. Sie haben bereits vor einigen Tagen ihr Kreuz gemacht. Solche Umfragen bergen allerdings einerseits die Gefahr, dass die Angerufenen nicht wahrheitsgemäß antworten. Andererseits haben die Forschungsinstitute wenig Erfahrung mit Early-Voting-Daten.
Auch wenn die Nachwahlbefragungen in diesem Jahr voraussichtlich weniger Aussagekraft in Bezug auf die endgültige Stimmverteilung haben, bleiben sie für die Analyse der Ergebnisse eine wichtige Grundlage. Denn sie können Antworten liefern auf die Frage, ob die Corona-Pandemie letztlich tatsächlich das wahlentscheidende Thema war - oder die Wähler womöglich doch aus anderen Gründen ihr Kreuz bei der einen oder anderen Partei gemacht haben.
Quelle: ntv.de, jug