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Angriff auf Atom-Frühwarnsystem Experte: Ukraine überschreitet bewusst rote Linien

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Russland verfügt derzeit über bis zu zehn Woronesch-DM-Frühwarnradarsysteme - eines steht in der Region Leningrad bei St. Petersburg.

Russland verfügt derzeit über bis zu zehn Woronesch-DM-Frühwarnradarsysteme - eines steht in der Region Leningrad bei St. Petersburg.

(Foto: picture alliance / dpa)

In der Nacht zu Donnerstag greift die Ukraine eine wichtige Radaranlage auf russischem Boden an. Nicht nur in Russland ist die Empörung groß. Doch ein US-Sicherheitsexperte wittert strategisches Kalkül - und eine Botschaft an die US-Regierung.

Der US-amerikanische Sicherheitsexperte Phillips O'Brien ist überzeugt, dass die Ukraine mit dem Angriff auf ein Atomraketen-Frühwarnsystem in Russland bewusst mehrere militärische rote Linien überschreiten wollte - auch, um eine Botschaft an den Westen zu senden. Die Attacke habe sofort eine Flut von Beschwerden ausgelöst, wonach der Angriff viel zu bedrohlich für Russland sei und einen Atomschlag provozieren könnte, schreibt O'Brien in seinem Newsletter. Es sei faszinierend zu beobachten, wie viele Leute sich verbiegen, um in der Debatte den russischen Standpunkt zu vertreten, ergänzt der Friedens- und Konfliktforscher. "Aber offensichtlich verstehen sie den Standpunkt der Ukraine nicht: Die Ukraine ist überzeugt, dass es keinen Atomschlag geben wird."

Den Angaben zufolge hat die Ukraine in der Nacht auf Donnerstag ein Radar des russischen Frühwarnsystems gegen anfliegende Atomraketen in der angrenzenden russischen Region Krasnodar beschädigt. Das Frühwarnradar vom Typ Woronesch-DM kann den Berichten zufolge angreifende Atomraketen auf 6000 Kilometer Entfernung erkennen. In der Kette solcher Radarstationen überwacht es den Luftraum über der Krim und Südwesteuropa hinaus bis weit auf den Atlantik.

Der frühere russische Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogosin, sprach von einem Angriff auf ein "Schlüsselelement der militärischen Steuerung der strategischen Nuklearstreitkräfte", der die Welt näher an den Abgrund eines Atomkriegs rücke. Ähnlich äußerte sich der unabhängige norwegische Militärexperte Thord Are Iversen: Es sei in Zeiten internationaler Spannungen keine gute Idee, solche Objekte anzugreifen, erklärte er. "Es gibt haufenweise Ziele in Russland, die man mit Drohnen angreifen kann. Und es gibt eine Handvoll Ziele, die man vermeidet, und dies gehört dazu."

Vier Lehren aus dem Angriff

US-Sicherheitsexperte O'Brien ist anderer Meinung. Er geht sogar so weit und sagt, dass die Ukraine sehr viel mit dem Angriff erreicht habe:

  1. Die Attacke belegt, dass kein russisches Ziel auf russischem Boden sicher ist. Wenn Russland solche Angriffe verhindern wolle, müsse es Luftabwehr vom Schlachtfeld abziehen: "Es erstaunt mich, wie leicht es für die Ukraine zu sein scheint, diese Ziele von hohem militärischem Wert in Russland zu treffen", schreibt O'Brien. "Wo ist die russische Luftabwehr?"
  2. Der Angriff zeigt den USA und anderen westlichen Ländern, dass es keine Rolle spielt, ob sie Angriffe mit ihren Waffensystemen auf Militärziele in Russland erlauben oder nicht. "Die US-Regierung geht nach wie vor davon aus, dass sie kontrollieren und begrenzen kann, wo und wie die Ukraine Russland angreift", schreibt O'Brien. "Die Ukrainer sagen deutlich, dass das nicht der Fall ist und diese Haltung die Lage nur verschlimmert."
  3. Der Angriff ist bedeutsam, weil das Radarsystem auch die Krim schützt, die für die Ukrainer ein zentrales Ziel im Krieg ist: "Sie verwandeln die Krim langsam aber sicher von einem strategischen Vorteil in eine strategische Belastung für den Kreml", schreibt der Konfliktforscher. Darauf deuten demnach auch die wochenlangen Angriffe auf die Luftwaffenbasen und Marinestützpunkte auf der Halbinsel hin.
  4. Die ausbleibende russische Reaktion auf die Attacke zeigt, dass es sich bei den ständigen russischen Atomdrohungen um leere Drohungen handelt. "Russland kann es sich nicht leisten, eine Atomwaffe gegen die Ukraine einzusetzen, und die Ukraine weiß das", schreibt O'Brien.
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Ob die Ukraine mit diesem Angriff tatsächlich eine Botschaft auch an die US-Regierung senden wollte, ist unklar. Bisher besteht US-Präsident Joe Biden darauf, dass die Ukraine US-Waffen nicht einsetzen darf, um russisches Territorium zu treffen. Zumindest bei US-Außenminister Antony Blinken soll aber ein Umdenken eingesetzt haben: Die "New York Times" hatte unter der Woche berichtet, dass er sich im Weißen Haus dafür einsetze, Raketen- und Artilleriestellungen direkt hinter der Grenze in Russland auch mit US-Waffen zu beschießen.

Regierungsbeamte, die an den Gesprächen beteiligt waren, behaupten, dass die neue Front in dem Krieg Ursache des Sinneswandelns sei: Moskaus Streitkräfte hätten Raketensysteme direkt jenseits der Grenze im Nordosten der Ukraine platziert und auf die Großstadt Charkiw gerichtet - "wohl wissend, dass die Ukrainer nur in der Lage sind, nicht amerikanische Drohnen und andere Waffen einzusetzen, um darauf zu reagieren".

Quelle: ntv.de, chr/fni

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