Gaza in zwei Hälften geteilt Experte erwartet Verschärfung der Kämpfe im Norden
06.11.2023, 20:20 Uhr Artikel anhören
Die israelischen Streitkräfte wollen möglichst viele Einwohner Nord-Gazas nach Süden schicken, um für ihre Angriffe auf die Hamas freiere Hand zu haben.
(Foto: IMAGO/Xinhua)
Die israelische Armee hat die Küste erreicht und Gaza militärisch zweigeteilt. Sicherheitsexperte Kaim sieht darin einen Hinweis, dass sie die Angriffe im Norden verstärken will. Warum ist dafür die Kontrolle in der Mitte des Landes so wichtig?
Die israelischen Streitkräfte (IDF) sind von der östlichen Grenze Gazas bis an die Mittelmeerküste vorgerückt und haben den nur wenige Kilometer breiten Landstreifen militärisch in zwei Teile geteilt. Nach Aussage der IDF ist die Stadt Gaza, die im Norden der Region liegt, damit vollständig eingekreist. Auch am Montag räumte Israel der palästinensischen Bevölkerung jedoch ein Zeitfenster von vier Stunden ein, um sich über eine zentrale Straße aus dem Norden in den Süden des Landes zu bewegen.
Laut Sicherheitsexperte Markus Kaim zeichnet sich damit eine Verschärfung der Kämpfe im Norden ab. Die Nord-Süd-Trennung trage demnach "den unterschiedlichen Anforderungen an Israel Rechnung" - einerseits dem Ziel des Krieges, die Hamas auszuschalten, andererseits dem steigenden internationalen Druck, der von Israel verlangt, die humanitäre Situation zu berücksichtigen. "Dem dient dieses Ziel, den Gazastreifen zu trennen in den Norden, was letztlich das Kampfgebiet sein wird, und in den Süden, was letztlich das Schutzgebiet sein wird", sagte Kaim im Gespräch mit ntv.
Der durch Israel kontrollierte Streifen zwischen den beiden Teilen hilft aus Sicht des Militärexperten Markus Reisner auch bei der Zielsetzung, eine Trennung der Hamas-Terroristen von der zivilen Bevölkerung zu erreichen. "Es ist schwer, das derzeitige menschliche Leid in richtige Worte zu fassen", so der österreichische Oberst. "Ich möchte anhand einer einfachen Erklärung die militärische Strategie der IDF veranschaulichen." Zu diesem Zweck könne man sich den Gazastreifen wie ein Glas verunreinigtes Wasser vorstellen.
"Die Masse der Bevölkerung im Gaza ist das Wasser", erklärt Reisner sein Bild. "Dieses ist aus Sicht Israels durch die Hamas-Terroristen verunreinigt. Die israelischen Streitkräfte haben durch die Teilung Gazas nun das Wasser auf zwei Gläser verteilt. Nun lehrt man anschließend das eine Glas in das andere." Was darüber schwappt, seien in Kauf genommen Kollateralschäden. Wenn dann das eine Glas leer und sauber sei, lege man einen Filter darauf. "Dann schüttet man das Wasser wieder zurück in dieses Glas und 'reinigt' so auch den Rest der Bevölkerung von der Hamas."
Die Hamas kann die IDF militärisch nicht besiegen
Die Trennung von Zivilbevölkerung und Terroristen so weit wie möglich zu erreichen, ist für Israels Armee essentiell. Nur so kann sie das Ziel der Hamas untergraben, den parallel zu den Kampfhandlungen vor Ort bestehenden Informationskrieg in der Öffentlichkeit weiter zu befeuern. Denn das Ziel der Terroristen ist nicht, die israelische Armee zu besiegen. "Das können sie nicht", sagte der US-Militäranalyst Liam Collins auf CNN. Es gehe darum, Zeit zu gewinnen. "Je länger die Kämpfe in den Städten andauern, desto größer wird der politische Druck auf Israel, die Angriffe einzustellen, da Kollateralschäden und zivile Opfer ein fester Bestandteil eines Krieges in den Städten sind", so Collins.
Die Zeit arbeitet gegen Israel. Das Leid, das die Hamas mit ihrem Massaker am 7. Oktober über Israel gebracht hat, tritt in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend in den Hintergrund, während aktuelle Bilder vor allem die Not und das Sterben im Gazastreifen dokumentieren. Zwar greift die Hamas weiterhin täglich israelisches Gebiet mit Raketen an, doch die bessere Flugabwehr der IDF fängt diese weitestgehend ab. So gibt es viele Bilder ziviler Opfer aus dem Gazastreifen, jedoch nur vereinzelte aus Israel.
Gut für die Hamas, denn solche Bilder des Kriegsleidens befeuern die internationale Debatte darüber, bis zu welchem Grad der militärische Gegenschlag Israels noch "angemessen" sei, im Verhältnis stehe zum Auslöser des Krieges, dem Terroranschlag vom 7. Oktober. Bedrohlich wird es für die Israelis, falls das Pendel der öffentlichen Meinung irgendwann so stark gegen Israel ausschlägt, dass die USA sich als wichtigster Verbündeter distanzieren würden. "Wenn die Gefahr besteht, dass die USA nicht mehr an der Seite Israels stehen, dann muss auch Israel seine Maßnahmen anpassen", analysiert Reisner.
Die Hamas will zivile Opfer generieren
Entsprechend ist es für die israelische Armee nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch strategisch wichtig, seine militärischen Ziele mit so wenig zivilen Opfern wie möglich zu erreichen. "Das versucht Israel zum Beispiel durch den Einsatz von Spezialkräften, die durch eine sehr detaillierte Aufklärung zuvor und mit sehr exakten Lagebildern fast chirurgisch genau zuschlagen, um zivile Opfer zu vermeiden", sagt Reisner.
Die Hamas hingegen verfolgt das gegenteilige Ziel, sie will zivile Opfer nicht vermeiden, sondern generieren. "Sie müssen sich vorstellen, der Hamas-Kämpfer hat das Kind an der Hand und läuft mit dem Kind voraus vor ihnen her", erläutert der Experte. "Wie sollen Sie da agieren?"
Der amerikanische Militäranalyst John Spencer, ein Experte für urbane Kriegsführung, bescheinigt Israel ein Vorgehen gemäß des Völkerrechts. "Leider sind 90 Prozent der Todesfälle in modernen Kriegen Zivilisten und nicht Soldaten", sagte er im Interview mit dem US-Sender "News Nation". Die Kämpfer suchten den Schutz urbaner Gebiete. "Die wichtigste Maßnahme, um Zivilisten zu schützen, ist, nach Süden zu gehen, wo der Hauptkonflikt nicht tobt."
Quelle: ntv.de