Flüchtlinge? Nicht erwünscht Warum arabische Länder die Palästinenser fürchten
04.11.2023, 10:18 Uhr Artikel anhören
Palästinenser werden von den Staaten der arabischen Welt nur in ganz wenigen Fällen ins Land gelassen.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon - keines der israelischen Nachbarländer lässt Menschen aus dem Gazastreifen ins Land. Warum sind Palästinenser in den muslimischen Staaten der Region nicht willkommen?
Der einzige Grenzübergang von Gaza nach Ägypten ist dicht. Im Grenzort Rafah kommen kaum Palästinenser durch - außer Verletzte und Palästinenser mit doppelter Staatsbürgerschaft. Ein Korridor für Zivilisten von Gaza ins Westjordanland, um von dort nach Jordanien zu reisen, ist auch keine Option. Nicht für Israel, aber auch nicht für Jordanien. Kein Durchkommen gibt es auch nach Norden in den Libanon oder Richtung Nordosten nach Syrien. Die Israelis lassen keine Flüchtlinge aus Gaza raus und durch ihr Land reisen.
Aber selbst, wenn die israelische Regierung mitspielen würde, die arabischen Nachbarstaaten möchten ohnehin keine Palästinenser aufnehmen. "Sie sollten in ihrem Land bleiben", sagte der ägyptische Präsident Abdel Fatah-al-Sisi, als Israel nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober mit seinen Vergeltungsschlägen im Gazastreifen begann.
Die Haltung der arabischen Staaten mag verwundern. Sie zeigen wenig Sympathie für Israel, aber viel für die Palästinenser und immer wieder auch für die Hamas. Viele Araber halten die Palästinenser aber auch für eine Absicherung: "Wachhunde werden im Garten an der Leine gehalten, nicht im Schlafzimmer. Sie sollen deine Feinde bedrohen, nicht deine Kinder", beschreibt ein ägyptischer Bürger in einem Bericht von "The Insider", warum auch er gegen die Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge ist: Die "wilden Hunde" sollen Israel bedrohen, nicht Ägypten.
Diese Metapher gilt seit Jahren. Bereits vor den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober hatten Palästinenser kaum eine Chance, auf legalem Weg nach Ägypten einzureisen. Nur in Ausnahmefällen wurde die Grenze geöffnet, zum Beispiel für schwer kranke oder schwer verletzte Gaza-Bewohner. Genauso wie jetzt.
"Eine Art ägyptische Staatsräson"
Offiziell gibt die ägyptische Führung allerdings einen anderen Grund für die geschlossenen Grenzen an: Ägypten befürchtet, dass die Palästinenser dauerhaft aus dem Gazastreifen vertrieben werden könnten, wenn sie ihn erst einmal verlassen haben. "Es ist eine Art Staatsräson, wenn man es mit diesem deutschen Wort sagen möchte", umschreibt ntv-Reporterin Nicole Macheroux-Denault die ägyptische Angst, dass man mit der Aufnahme Hunderttausender Palästinenser "die Prophezeiung israelischer Extremisten" erfülle, "die alle Palästinenser vertreiben wollen".
Hinzu kommt, dass auf ägyptischer Seite die politisch instabile Sinai-Halbinsel an den Gazastreifen grenzt. Die Region wird abseits der schwer bewachten Grenze von ägyptischen Sicherheitsbehörden kaum kontrolliert. In den vergangenen Jahren entwickelte sich der Sinai zum Rückzugsort für militante Islamisten. Nach dem Arabischen Frühling vor elf Jahren hat sich eine Allianz von Dschihadisten auf die Halbinsel zurückgezogen. Die ägyptische Armee kämpft gegen Mitglieder von Al-Kaida und den Islamischen Staat.
Sollte der Rafah-Grenzposten für palästinensische Flüchtlinge geöffnet werden, fürchtet Kairo, dass auch Hamas-Unterstützer den Gazastreifen verlassen und sich auf dem Sinai mit ihren ideologisch verwandten Dschihadisten zusammentun könnten. Die ohnehin angespannte Sicherheitslage auf der Halbinsel würde sich weiter zuspitzen.
Ägypten droht Zusammenbruch
Denn die Hamas ist eine Tochterorganisation der Muslimbruderschaft, die von 2012 bis 2013 mit Mohammed Mursi in Ägypten den Präsidenten stellte. Nachfolger al-Sisi geht hart gegen die Gruppe vor, stufte sie als Terrororganisation ein und ließ Mursi verhaften. Dieser starb 2019 im Gefängnis.
Eine Flüchtlingswelle kann sich der ägyptische Staatschef auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht leisten. Die ägyptische Bevölkerung hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 70 Millionen auf 110 Millionen Menschen vergrößert. Das Wirtschaftswachstum blieb dagegen deutlich hinter den Erwartungen zurück.
Setzt sich der Trend fort, droht der gesellschaftliche Zusammenbruch: Ägyptens Präsident verweist auf etwa neun Millionen Flüchtlinge, die bereits im Land leben. Kommen jetzt auch noch Hunderttausende Palästinenser dazu, müsste Kairo weitere Aufnahmezentren, Unterkünfte, Nahrung und Wasser aufbringen. Zumal im Dezember die Präsidentschaftswahlen anstehen. Der autoritär regierende al-Sisi will nicht, dass sein ungefährdeter Wahlsieg von Massenprotesten begleitet wird.
Flüchtlinge in Jordanien? "Rote Linie"
Auch Jordanien weigert sich, Gaza-Flüchtlinge aufzunehmen. Das haschemitische Königreich hat in den vergangenen Jahren viele Palästinenser ins Land gelassen. Ein Drittel der Bevölkerung stammt aus Gaza oder dem Westjordanland. Noch mehr sollen aber nicht kommen: Das schlug Olaf Scholz bei seinem Besuch Mitte Oktober vor. Israel könnte einen Korridor für Zivilisten von Gaza ins Westjordanland einrichten, damit diese dann nach Jordanien einreisen könnten, sagte der Kanzler. Diesen Plan lehnte König Abdullah II. umgehend ab, der jordanische Herrscher sprach von einer "roten Linie".
"Ich glaube, ich spreche nicht nur im Namen der jordanischen Regierung, sondern auch im Namen unserer ägyptischen Freunde: keine Flüchtlinge in Jordanien, keine Flüchtlinge in Ägypten", so der Monarch bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz.
Auch Jordanien bemüht das Argument, dass Palästinenser dauerhaft ihre Heimat verlieren könnten, wenn sie den Gazastreifen einmal verlassen haben. Es gibt allerdings auch historische Vorbehalte: Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Jordanien die Kontrolle über das Westjordanland, bis sie 1967 beim Sechs-Tage-Krieg gegen Israel wieder verloren ging. Hunderttausende Palästinenser wurden durch den Konflikt nach Jordanien vertrieben.
Seitdem strömen immer wieder palästinensische Flüchtlinge aus dem Westjordanland nach Jordanien. Doch die Realität ist: Palästinenser und Jordanier pflegen oftmals kein gutes Verhältnis.
Denn 1970 hat eine Gruppe radikalisierter Palästinenser ein Attentat auf den damaligen jordanischen König Hussein I. verübt. Ihnen und vielen anderen Palästinensern war seine Israel-Politik zu liberal. Hussein I. überlebte den Angriff, setzte eine Militärregierung ein und startete einen Gegenangriff im eigenen Land. Das jordanische Militär vertrieb die palästinensischen Guerillas in den Libanon.
Die Erinnerungen an die radikalen Gäste sind allgegenwärtig. Jordanien will die ohnehin "zerbrechliche nationale Identität" nicht durch einen erneuten Zustrom von Palästinensern bedrohen, schreibt "The Insider".
Andere Länder auch keine Option
Andere Länder in halbwegs direkter Nachbarschaft kommen für die Menschen aus Gaza ebenfalls nicht infrage. Syrien steckt seit über einem Jahrzehnt in einem blutigen Bürgerkrieg. Der Libanon wiederum ist mit den Flüchtlingen aus Syrien überfordert. Knapp sechs Millionen Einwohner hat die Republik am Mittelmeer, davon gut 1,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. In keinem anderen Land auf der Welt ist der Anteil an Flüchtlingen so groß wie im Libanon.
Die steinreichen Golfstaaten Katar, Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate könnten Flüchtlingsunterkünfte problemlos finanzieren, wollen aber bis auf reiche Ausländer aus dem Westen niemanden ins Land lassen. Katar beherbergt dafür ausgerechnet den Anführer der Hamas.
Dass der Iran keine Flüchtlinge aufnehmen will, versteht sich von selbst. Die islamische Republik will Israel von der Landkarte tilgen und ist deshalb der größte Hamas-Unterstützer von allen. Eine Massenvertreibung von Palästinensern aus Gaza ist deshalb nicht im Interesse des Iran.
Die arabische Welt sympathisiert laut und offen mit den Palästinensern. Doch vom eigenen Schlafzimmer und den eigenen Kindern wollen sie potenziell "gefährliche Wachhunde" fernhalten - darauf achten alle arabischen Länder ganz genau.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de