Politik

Selenskyj will Mariupol befreien Experte sieht "hohes Risiko" bei neuer Offensive

Präsident Selenskyj besuchte am Mittwoch die befreite Stadt Isjum in der Region Charkiw. Nun kündigt er an, auch Mariupol und Melitopol zurückerobern zu wollen.

Präsident Selenskyj besuchte am Mittwoch die befreite Stadt Isjum in der Region Charkiw. Nun kündigt er an, auch Mariupol und Melitopol zurückerobern zu wollen.

(Foto: dpa)

Gerade erst konnte die Ukraine rund um Charkiw und Cherson Erfolge vermelden, da kündigt Selenskyj die nächste Offensive an: Auch Mariupol und Melitopol sollen befreit werden. Doch Experte Richter sieht große Hindernisse auf die Truppe zukommen.

"Die gesamte Ukraine muss frei sein", dieses Ziel untermauert Präsident Wolodymyr Selenskyj auch am Sonntagabend in seiner Videoansprache. Und wird dabei konkret: Die derzeitige Ruhephase diene demnach der Vorbereitung auf die nächste Offensive, deren Ziel die Rückeroberung von Cherson, Mariupol und Melitopol sei. Doch hat die ukrainische Armee noch genug Kraft, um schon bald eine weitere Offensive zu fahren?

Die letzten Zahlen über Verluste auf ukrainischer Seite stammen aus dem Juli und von offizieller ukrainischer Seite. Sie sind also als defensiv einzuschätzen, da die Regierung mit Rücksicht auf die Moral der Truppe Verluste eher klein reden wird. Die Meldungen damals beklagten 9000 Gefallene, laut dem Militärexperten Wolfgang Richter muss man erfahrungsgemäß rund dreimal so viele Verwundete hinzurechnen. Unter Berücksichtigung der intensiven und blutigen Kämpfe in Mai und Juni sowie der Offensive von Anfang September geht Richter von 12.000 Gefallenen und deutlich über 40.000 Gesamtverlusten aus.

Entscheidend für die Offensivkraft der Truppe ist aber vor allem, wie viele Opfer es in den Offensiveinheiten gibt, die in erster Linie aus Elitekräften bestehen. Bei der Offensive in Charkiw lobte Selenskyj anschließend drei beteiligte Brigaden, zwei davon waren Fallschirmjägereinheiten. Die insgesamt etwa 20.000 ukrainischen Fallschirmjäger bilden neben Marine-Infanteristen und Panzergrenadieren den Kern der Offensivtruppen.

Viele Elitetruppen stehen im Donbass

"Zwar können die Fallschirmjäger mangels Luftüberlegenheit nur konventionell, also nach einem Landmarsch eingesetzt werden, dennoch sind es sehr kampfkräftige, gut motivierte, gut ausgerüstete Elitetruppen", sagt Richter ntv.de. Viele andere Eliteeinheiten stünden allerdings im Donbass, um die Regionen um Luhansk und Donezk zu verteidigen oder im Raum um Mikolajew die Initiative zu ergreifen. Außerdem sind viele weitere Truppenteile gebunden, um eine lange Front von ca. 1300 km zu verteidigen. Insofern stehen aus der Sicht Richters nur begrenzt mobile und feuerstarke Angriffsverbände für eine weitere Offensive zur Verfügung, "um den operativen Erfolg in Charkiw in eine strategische Wende auszubauen". Diese sieht Richter bislang nicht.

In Interviews mit Reportern der "Washington Post" stellten an der Offensive in Cherson beteiligte Verwundete vor zwei Wochen dar, wie hoch die Verluste in ihren Einheiten waren. Die Soldaten, untergebracht in einem Krankenhaus im Hinterland, beklagten die technische Überlegenheit des Gegners. "Wenn wir drei Granaten abfeuerten, schickten sie 20 zurück", beschrieb einer.

Von 120 Mitgliedern der Einheit fast alle verwundet, zwei tot, lautete eine Bilanz. Von 100 Mann sieben getötet, 20 Verwundete, eine andere. Auch ohne offizielle Zahlen muss man davon ausgehen, dass die in Cherson und Charkiw eingesetzten Elitetruppen hohe Verluste zu verzeichnen haben.

Die Ukraine können den Schock nutzen

Dennoch sieht der ehemalige Generalmajor der australischen Armee, Mick Ryan, das Momentum weiterhin auf Seiten der Ukrainer. Ein militärischer Schock wie der, den der erfolgreiche ukrainische Angriff bei den russischen Truppen ausgelöst habe, sei "generell eine produktive Zeit für die Offensive", erklärt er auf Twitter. Die Russen müssten ihre Kräfte im Osten verstärken und möglicherweise Truppen aus dem Süden dafür abziehen.

In dieser Phase des Schocks könne die Ukraine die größten Landgewinne machen und die stärksten Zerstörungen bei den Truppen erreichen. Ryan sieht in der bisherigen Offensive den Beweis, dass die ukrainische Armee die nötige Überzeugung und Befähigung für einen Offensivkampf hat. Die Ukraine scheine "das Potential zu spüren für einen größeren Kollaps der Russen im Osten".

Richter hingegen ist skeptisch, ob die Angriffskraft der ukrainischen Truppen und vor allem die Logistik dahinter ausreicht, um nun auch eine Offensive in die Tiefe zu führen - "vor allem, wenn die Russen jetzt die ukrainische Logistik mit Raketen- und Luftangriffen abriegeln". Die aktuellen russischen Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung zielten auch darauf ab, "dass die größtenteils elektrifizierte Eisenbahn nicht mehr rollt, die Nachschub und Reserven an die Front bringen müsste".

"Auf dieser Frontlänge kann man nicht angreifen"

Um einen Angriff erfolgreich führen zu können, müssen sich Kräfte in den räumlichen Schwerpunkten konzentrieren. Dies führt angesichts der Länge der Front und begrenzter Truppenstärke dazu, dass an anderen Orten Lücken entstehen. Damit entstehen hohe Risiken in ausgedünnten Räumen. "Die Frontlänge von Cherson über Melitopol bis Mariupol umfasst den gesamten Südkorridor, den russische Truppen entlang der Küsten des Asowschen und des Schwarzen Meeres besetzt halten, also etwa 25-30 Prozent der gesamten Frontlänge. Auf einer solchen Breite kann man nicht simultan angreifen", sagt Richter. Es sei auch nicht möglich, die Truppen so zu zersplittern, dass man mit ausreichender Stärke drei Städte gleichzeitig attackiere.

Darüber hinaus könnten die Städte selbst ein großes Hindernis darstellen, "wenn die Russen jetzt dasselbe tun, was die Ukrainer zuvor getan haben, nämlich die Städte bis zum letzten Stein zu verteidigen". Das Bild würde sich dann umkehren, die Ukrainer müssten ihre eigene Stadt angreifen und die Russen, die sich dort verschanzen, mit viel Artilleriebeschuss und Feuerkraft heraustreiben. "Dabei würden sie große Teile der Städte zerstören. Zwar ist Mariupol schon jetzt ein Trümmerfeld, aber Cherson ist weitestgehend intakt. "Auch Melitopol ist eine Stadt, die bisher vom Krieg fast völlig unberührt ist", so Richter. "Wenn man eine solche Stadt angreift, geht man ein hohes Risiko ein - für die eigenen Truppen und für die Zivilbevölkerung."

Die erfolgreichen Artillerieschläge, die es im Raum um Cherson im Südwesten bereits gegen Ziele wie Brücken, Depots und Gefechtsstände in der Tiefe gab, könnten den Ukrainern in einer nächsten Offensive selbst auf die Füße fallen. Die Truppen hatten unter anderem mit der deutschen Panzerhaubitze 2000 und den HIMARS-Raketenwerfern aus den USA aus großer Entfernung wichtige Brücken über den Dnjepr zerstört und die russischen Truppen von der Versorgung abgeschnitten.

Doch für eine Offensive in die Tiefe müssten sie den Fluss in der Gegenrichtung selbst überqueren. "Für die Angriffsbewegungen der Ukrainer wäre dann der Fluss ein großes Hindernis. Sie müssten Pontonbrücken errichten, die wiederum Angriffsziele für den Gegner wären", so Richter. Die Ankündigung Selenskyjs, in der kommenden Offensive "gleich drei große Operationen gegen so schwierige Ziele zu führen", könne er darum nur "als langfristiges politisches Vorhaben verstehen".

Quelle: ntv.de

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