Ukrainer kämpfen im Untergrund Aushorchen, worüber der Gegner beim Bier redet
27.09.2022, 11:33 Uhr (aktualisiert)
Nach der Offensive bei Charkiw ersetzen ukrainische Soldaten die russische Flagge durch ihre eigene.
(Foto: IMAGO/Cover-Images)
Es sind nicht nur HIMARS-Raketenwerfer und Informationen der US-Geheimdienste, die der Ukraine zu ihrem aktuellen Erfolg verhelfen. Wichtig sind auch die Partisanen, die den Gegner mit ganz anderen Mitteln angreifen. Militärexperte Gustav Gressel erklärt, warum der Untergrund auf diesen Krieg so gut vorbereitet war und sich auch jetzt immer noch steigert.
ntv.de: Den Erfolg ihrer Offensiven rund um Cherson und Charkiw verdanken die Ukrainer dem Vernehmen nach auch Partisanen. Welche Rolle spielen solche Kämpfer im Untergrund?
Buttlar Das grüne JahrzehntGustav Gressel: Im Frühjahr 2021 gab es schon einmal einen großen Aufmarsch der Russen an der Grenze, bei dem nicht vorherzusehen war, wie die Sache ausgehen würde. Man hat schon damals auf westlicher Seite damit gerechnet, dass Russland einen konventionellen Krieg sehr rasch für sich entscheiden könnte und die ukrainischen Truppen als organisierte Armee unterliegen würden. Dann würde es im Rücken der Russen einen Partisanenkrieg geben gegen die Besatzer, so die Erwartung. Man ging davon aus, dass dieser Partisanenkrieg den größten Teil der ukrainischen Kampfführung einnehmen würde.
Hat die Ukraine sich also entsprechend vorbereitet?
Die Ukrainer haben tatsächlich in Vorbereitung auf genau dieses Szenario schon damals geheime Waffendepots angelegt. Die westliche Seite hat die ukrainischen Spezialkräfte trainiert: Wie baue ich Partisanenkräfte auf? Wie operiere ich im Rücken des Besatzers? Wie richte ich geheime Nachschublinien ein? All diese Fähigkeiten hat man im Voraus schon intensiv ausgebildet. Das bedeutet, darin sind die Ukrainer jetzt richtig gut.
Scheint sich auszuzahlen.
Wir können das genau beobachten in den besetzten Gebieten. Wenn die Russen dorthin vorstoßen, sind die Ukrainer schon darauf vorbereitet, Partisanenkräfte aufzustellen und mit dem Untergrund zusammenzuarbeiten.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: ECRF)
Man stellt sich automatisch Leute vor, die nachts im Wald durchs Unterholz robben.
Partisanen operieren aus einer Schwäche heraus - sie haben weniger Leute, sind meistens zu Fuß unterwegs, also weniger mobil, während der Besatzer Hubschrauber hat. Ein Partisanenkampf hat daher mit vielen Nachteilen zu kämpfen und muss mit der Zeit herausfinden, wie er die Nachteile ausgleicht und die Vorteile nutzt - nämlich unter anderem, dass ihn die Bevölkerung unterstützt, dass er lokale Ortskenntnisse hat.
Dann werden die Partisanen mit der Zeit stärker?
Das ist ein weiterer wichtiger Faktor: Untergrundarmeen werden immer mit der Zeit stärker. Die brauchen eine gewisse Zeit, um herauszufinden, wo der Gegner steht, wie er operiert, welche Routinen er hat, wo seine Schwächen sind, worauf er nicht aufpasst. Je länger der Krieg fortschreitet, desto stärker wird diese Bewegung und desto mehr kann sie leisten, weil sie sich jetzt in ihre Kampfweise eingelebt hat.
Wie kann eine Partisanengruppe ihren Gegner studieren?
Informationen bekommt der Untergrund auf vielen Wegen. Die erste Möglichkeit: Er beobachtet selbst. Widerstandskräfte sind ja Zivilisten, die in den besetzten Gebieten zum Beispiel arbeiten, die dort auf der Straße unterwegs sind, Freunde haben. Dann redet man natürlich.
Was kann man so herauskriegen?
Zum Beispiel, wo gegnerische Kräfte einquartiert sind. Dann beginnt man, die zu beobachten. Man sucht Freunde, Bekannte, Verwandte, die den eigenen Untergrund unterstützen. Wenn man etwa weiß, wo das Administrationsgebäude der Besatzungsverwaltung ist, dann schaut man, ob irgendein Bekannter oder Verwandter dort in der Nähe wohnt. Das wird dann der Beobachtungsposten. Man beobachtet die Routine, die Zeitabläufe, die Leute, die dort rein und raus gehen.
Ist das Internet auch eine Quelle?
Sogar eine sehr gute. Dort holt man so viel Hintergrundwissen wie möglich ein über die Kräfte des Gegners, ihren Wohnort, ihr Freizeitverhalten, ihre Kasernen.
Und dann?
Schaut man mal in die Kneipen, in die sie gehen. Kenne ich dort eine Kellnerin? Worüber redet der Gegner abends beim Bier?
Moment: Mitten im Krieg gehen Soldaten abends in die Kneipe und trinken einen über den Durst?
Die sind da ja Monate im Krieg, irgendwann muss auch mal der Druck raus. Mithilfe dieser unterschiedlichen Quellen kommt Stück für Stück ein Lagebild zustande: Was tun die Russen da eigentlich? Wo bewegen sie sich? Wie sind ihre Wachschichten? Wo hakt es, was sind ihre Probleme? Wenn ich das alles weiß, dann kann ich mir Gedanken machen: Wo sind die Schwachstellen in dem ganzen Spaß? Wo haben sie was übersehen? Da schlage ich zu.
In welcher Form?
An der Front in Charkiw haben ukrainische Partisanen und Spezialkräfte zum Beispiel versucht, den Aufbau der russischen Verteidigungslinie zu verzögern. Sie haben die nachrückenden Russen, die frischen Kräfte in Hinterhalte gelockt, sie verwirrt, versucht sie aufzuhalten.
Nach den eindrücklichen Erfolgen in kurzer Zeit: Hat die Ukraine reale Chancen darauf, die russischen Angreifer aus ihrem Land zu drängen?
Die Ukraine hat jetzt gute Voraussetzungen, um zu siegen. Da kann aber auch noch viel schiefgehen. Der Nachschub kann stocken, man kann Fehler machen. Auch die Verluste in der Truppe sind erheblich. Nachschub braucht die Ukraine unbedingt bei Kampfpanzern, es fehlt aber auch an Schützenpanzern und gepanzerten Transportfahrzeugen. Die Russen mussten einiges zurücklassen, aber man kann einen Krieg nicht auf Beutewaffen stützen.
Bei den Debatten des Frühjahrs um westliche Waffenlieferungen hieß es von Seiten der Regierung, das Problem sei die kurze Ausbildungszeit. Ukrainer könnten unsere Panzerhaubitzen oder den Flakpanzer Gepard gar nicht in all ihren technischen Finessen bedienen.
Da liefern die Ukrainer gerade den Gegenbeweis. Darüber hinaus war das Argument von Anfang an Blödsinn, da wird einiges verwechselt. Gerade in Bundeswehrkreisen halten viele die ukrainische Armee immer noch für die Sowjetunion und meinen, wenn man westliches Gerät nicht nach westlichen Prinzipien einsetzt, dann ist es sofort verschwendet.
Da möchten Sie offenbar widersprechen?
Die ukrainische Armee war - vom Standard her - sowjetisch bis zu den großen Niederlagen von 2014 und 2015 im Donbass. Dann hat man gewusst, dass es so nicht weitergeht und die Armee reformiert werden muss. Also wurden massenhaft Generäle in Pension geschickt und die Führung erhielt eine neue Ausbildung.
Wie waren die neuen Standards?
Kiew hat sich dafür vor allem an die Amerikaner und die Briten gewandt. Sie haben ein Trainingszentrum in Lwiw eingerichtet, um Ukrainer in Taktik auszubilden. Auch Polen und die baltischen Staaten haben Lehrer an die ukrainischen Ausbildungszentren entsendet, haben Führungskräfte geschult. Was die Ukrainer heute können, ist viel näher an dem dran, wie ein "Marder" in der Bundeswehr eingesetzt wird, als an der Handhabung eines Sowjetpanzers. Das ist alles nicht mehr Warschauer Pakt, was da passiert.
Kurze Ausbildungszeit für westliche Waffen ist aus Ihrer Sicht kein Argument dagegen, dass man der Ukraine die 16 "Marder" nun liefert, die fertig instandgesetzt bei Rheinmetall auf dem Hof stehen?
Das ist kein Argument, und wir müssen noch etwas sehen: Die Ukrainer stehen seit acht Jahren im Krieg mit den Russen. Die mechanisierten Einheiten sind Vertrags- und Berufssoldaten, das sind Profis, die den Feind kennen. Um die Russen zu schlagen, haben sie die Verfahren, die sie von den Briten und Amerikanern gelernt haben, so adaptiert, dass sie für dieses Ziel funktionieren. Und für genau dieses Ziel, die Russen zu schlagen, glaube ich nicht, dass ein Soldat, der den Einsatz von "Leopard" oder "Marder" vom Manöver der Bundeswehr her kennt, wirklich bessere Voraussetzungen hat, als jemand, der seit acht Jahren im Krieg mit den Russen steht. Die wissen, was sie tun.
Spricht der aktuelle Erfolg der Ukraine aus Ihrer Sicht dafür, dass der Westen nennenswerte Unterstützung unterm Radar der Öffentlichkeit liefert?
Ja. Sie ist weniger materieller Natur, sondern es geht in erster Linie um nachrichtendienstliche Informationen und Beratungen. Vor allem Großbritannien und die USA machen das, und sie machen es sehr gut.
Insgesamt klingt das alles, als könnte man vorsichtig zuversichtlich sein.
Die Ukraine hat die Initiative auf ihrer Seite. Das bedeutet, sie entscheidet derzeit, wo, wann und in welcher Intensität Kampfhandlungen stattfinden. Die Initiative ist eine Grundvoraussetzung für den Sieg. Habe ich in einem Krieg die Initiative nicht, dann kann ich nur auf die Dummheit des Gegners hoffen. Noch etwas kommt hinzu: Die russische Personalsituation war vor der Offensive der Ukrainer schon prekär, jetzt wurde sie noch schlechter, und viele Dienstverträge in der Armee laufen in den nächsten Wochen aus.
Das heißt, die Situation wird eher schlechter als besser?
Sie wird bis zum Ende des Jahres dramatisch werden. Die Rekrutierung neuer Kräfte sollte jetzt auf Hochtouren laufen, aber in diese Phase kommt nun die Nachricht der ukrainischen Offensive, die in Russland ja nicht verborgen geblieben ist. Es gibt bereits Meldungen über Leute, die den Vertrag schon unterschrieben haben und nun sagen, sie wollen nicht in diesen Krieg ziehen. In Bezug auf die Rekrutierung hat die Ukraine also einen sehr guten Zeitpunkt für ihre Offensive gewählt.
Was kann Russland tun?
Sie können die alten Kräfte zwingen, weiterzukämpfen, im russischen Recht gibt es diese Möglichkeit. Aber diese Soldaten sind natürlich müde. Was passiert, wenn man hektisch neue Truppen aufstellt, sieht man beim 3. Armeekorps: Es war unterbesetzt und bestand zum Teil aus Freiwilligenbataillonen, die erst seit zwei Monaten im Dienst waren. Wenn die sofort an die Front gestellt werden, ist die Qualität der Truppe schlecht. Man braucht Zeit, um das Soldatenhandwerk zu erlernen.
Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 18. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de