Von wegen einfach zurückschicken Gericht legt Tücken des Asylsystems offen
31.05.2018, 14:44 Uhr
Ankunft von Asylbewerbern in einer Unterkunft in Friedland.
(Foto: REUTERS)
Eigentlich erscheint die Sache klar: Ein Flüchtling beantragt Asyl in Deutschland. Dann zieht er nach Frankreich. Paris darf ihn trotzdem nicht ohne weiteres zurückschicken. Die Uhr für eine Reform des europäischen Asylsystems tickt.
Im Irak fühlte sich Adil H. nicht sicher. Er floh nach Deutschland, ließ seine Fingerabdrücke ablesen und stellte einen Antrag auf Asyl. Doch offenbar wollte H. in Deutschland nicht bleiben. Der Iraker reiste nach Frankreich. Dort produzierte er eine paradox anmutende Situation.
Als die französische Behörden ihn im Hafen von Calais festnahmen, wollten sie H. noch am selben Tag zurück nach Deutschland schicken. Schließlich hatte er in der Bundesrepublik schon einen Asylantrag gestellt. Doch H. sperrte sich gegen den Versuch Frankreichs, ihn wieder an die Bundesrepublik zu überstellen. H. pochte darauf, dass Paris sich zuerst die Zustimmung Berlins sichern müsste und verwies auf das europäische Asylrecht, die Dublin-III-Verordnung. Zu Recht, wie nun der Europäische Gerichtshof (EuGH) befand. Die Juristen verwiesen darauf, dass andernfalls die Möglichkeiten Hs. eingeschränkt gewesen wären, die Überstellung anzufechten.
Dublin-Überstellungen gelingen selten
Derzeit gilt: Zuständig für das Asylverfahren eines Flüchtlings in Europa ist stets der Staat, dessen Boden ein Migrant als erstes betreten hat. Nun ist eher unwahrscheinlich, dass Adil H. zuerst in Deutschland angekommen ist. Iraker kriegen in der Regel kein Einreisevisum, das ihnen einen Direktflug ermöglichen würde. Aber es ist in dem Fall mindestens klar, dass eher Deutschland als Frankreich in der Pflicht ist. Doch es reicht eben nicht, dass die Zuständigkeit klar ist. Auch deshalb gelten die sogenannten Dublin-Überrstellungen als einer der Gründe, warum das europäische Asylsystem nicht effizient funktioniert. Das jeweilige Zielland muss mitwirken, rechtliche Hürden müssen überwunden und bürokratische Fallstricke umgangen werden. Das gelingt nicht oft. Im Jahr 2017 erreichten die Bundesrepublik 26.931 Übernahmeersuchen aus anderen Mitgliedstaaten. Es kam allerdings nur zu 8754 tatsächlichen Überstellungen. Andersherum lief es ähnlich: Deutschland bat im Rahmen der Dublin-Regeln 64.267 Mal darum, Flüchtlinge in einen anderen Mitgliedstaat überstellen zu dürfen, konnte aber nur 7102 Asylbewerber auch tatsächlich wieder in ein anderes Land schicken. Unklar ist, ob Adil H. am Ende dieses Jahres zu den erfolgreichen oder gescheiterten Dublin-Überstellungen zählen wird. Der EuGH entschied nicht darüber, ob Frankreich ihn nach einer Zustimmung Deutschlands zurückschicken darf.
Als gescheitert gilt das europäische Asylrecht allerdings vor allem, weil der gesamte Mechanismus der Dublin-Überstellungen unfair ist. Das System stammt aus dem Jahr 1990. Beteiligt waren damals neben Deutschland nur Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlange, Portugal, Spanien und Großbritannien. Die Unterzeichner der Übereinkunft gingen angesichts ihrer geografischen und politischen Lage davon aus, dass es schon zu einer einigermaßen gerechten Verteilung zwischen ihnen kommen würde, wenn das Prinzip des Erstbetretens gilt. Doch die Lage auf dem Kontinent und in der Welt veränderte sich. Nicht zuletzt durch die EU-Osterweiterung fing das System an zu wanken. Strikt angewendet würden die Dublin-Regeln angesichts der aktuellen Migrationsströme dazu führen, dass Italien und Griechenland als Mittelmeeranrainer fast alle Asylverfahren übernehmen müssten.
Alles ist besser als der Status Quo
Die EU-Kommission stieß 2016 eine Reform an. Das europäische Parlament legte sich im vergangenen Jahr auf ein Konzept fest. Flüchtlinge sollen demnach zwar weiterhin in dem Land registriert werden, das sie zuerst betreten. Sie sollen dort aber nicht zwingend auch für das gesamte Asylverfahren bleiben. Eine Überstellung soll möglich sein, wenn es bereits familiäre Verbindungen in ein anderes EU-Land gibt. Außerdem sollen Flüchtlinge grundsätzlich gerecht auf alle Mitgliedstaaten umgelegt werden. Weigert sich ein Land, seinen Anteil aufzunehmen, sollen ihm EU-Mittel gestrichen werden.
Einige Staats- und Regierungschefs sperren sich gegen einen solchen Mechanismus. Sie pochen auf die nationale Souveränität, wenn es um die Aufnahme von Menschen aus anderen Staaten geht. Die Begriffe "Quote" und "Zwangsaufnahme" sind etwa in Ungarn oder der Slowakei Reizworte.
Am nächsten Dienstag kommen die Staats- und Regierungschefs nun ein weiteres Mal zusammen, um über eine Reform zu beraten. Eigentlich soll das Konzept eines neuen europäischen Asylsystems im Juni stehen. Doch es gibt Zweifel, ob es so schnell zur Einigung kommt.
Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos mahnte Mitte Mai: "Die Uhr tickt jetzt." Auch die EU-Parlamentarier erhöhten den Druck - und zwar fraktionsügergreifend von links bis rechts. "Ich hoffe, dass die Mitgliedsstaaten endlich ihre Differenzen überwinden und sich im Juni auf eine Position einigen, damit wir uns an den Verhandlungstisch setzen können", sagte die zuständige Berichterstatterin Cecilia Wikström auf einer eigens anberaumten Pressekonferenz Ende Mai. Selbst aus der europakritischen EFDD-Fraktion, zu der die AfD gehört, gab es Unterstützung für den Aufruf. Die EFDD-Abgeordnete Laura Ferrara aus Italien sagte, jede Reform sei besser als der Status Quo.
Quelle: ntv.de