Türkischer Oppositionsführer "Ich bin in der Vergangenheit fast gelyncht worden"
27.04.2023, 18:56 Uhr Artikel anhören
Wegen seiner ruhigen Art trägt er den Spitznamen "Gandi Kemal", wegen seiner Aussagen gegen die türkische Regierung muss er um seine Freiheit fürchten, zurück hält er sich aber nicht: Kemal Kılıçdaroğlu ist Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP und tritt zur kommenden Wahl als Oppositionsführer gegen Erdogan an. Im Interview mit ntv spricht er darüber, wie er sein Land verändern will, seinen Einsatz für eine faire Wahl und Anschläge gegen seine Person.
ntv: Wie zuversichtlich sind Sie, dass das Oppositionsbündnis diese Wahl gewinnen kann, und was versprechen Sie den Menschen, sollten Sie der nächste Präsident der Türkei werden?
Kemal Kılıçdaroğlu: Wir werden diese Wahl gewinnen. Wir sind nah an den Bedürfnissen der Menschen dran, auch die Umfragen sehen gut für uns aus. Die Zustimmung zu uns sehen wir auch an den Reaktionen der Leute. Sollten wir gewinnen, müssen wir uns um zwei Bereiche ganz intensiv kümmern. Zum einen verlangen die jungen Menschen nach mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit. Und zum anderen hoffen normale Arbeiter, Händler oder Großunternehmen darauf, dass sich die Wirtschaft so schnell wie möglich erholt. Die Lebenshaltungskosten sind hoch, Investoren wissen nicht, was die Zukunft bringt und können nichts investieren. Also wollen alle langfristige Pläne und Programme sehen. Es gibt in vielen Bereichen Probleme - wir haben Pläne und Lösungen dafür!
Erdogan-Unterstützer sind der Meinung, nur der Präsident sei stark und erfahren genug, das Land erfolgreich zu regieren. Kritiker sehen sie als zu passiv und zweifeln, dass sie die Wahl gewinnen können. Wie versuchen Sie diese Menschen zu überzeugen?
Das bedingungslose Befolgen jeder Anweisung, die aus dem Munde Erdogans kam, hat die Institution, die wir Staat nennen, geschwächt. Die Pfeiler des Staates haben erheblichen Schaden erlitten, beispielsweise die Justiz. Das Parlament steht im Schatten einer einzigen Person. Dadurch ist das Konzept der Demokratie in den Hintergrund gedrängt worden und mündet in einen autoritären Staat. Ein Staat kann nicht einfach in die Hände einer einzigen Person übergeben werden.
Türkische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Deutschland dürfen ebenfalls an den Wahlen in der Türkei teilnehmen. Wie würde sich das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei verändern, falls Sie diese Wahl gewinnen sollten?
Mit Liebe und Respekt grüße ich alle Türkinnen und Türken, die in Deutschland arbeiten, die ihren Schweiß vergießen und damit zum Wachstum und zur Entwicklung von Deutschland beitragen. Sie können dort gut in einem freien Land leben, werden für ihre Arbeit fair bezahlt und können ihre Gedanken frei zum Ausdruck bringen. Man sollte doch zumindest glauben, dass das genau so auch in der Türkei möglich ist. Auch dort sollten sich die Menschen frei äußern und organisieren können. Wir wollen ebenfalls ein Land mit einem robusten Rechtssystem und das sollten auch die Türken in Deutschland wollen. In der Vergangenheit haben viele Menschen die AKP gewählt, das ist mir bewusst, aber ich glaube, dass sich das nun sehr schnell ändert.
Befürchten Sie einen Wahlbetrug und können Sie etwas dagegen unternehmen?
Lassen Sie mich zuallererst ganz offen sein: Wir trauen Erdogan und den Richtern, die er ernannt hat, nicht. Wir wissen sehr wohl von den Entscheidungen, die diese Richter in der Vergangenheit auf sein Geheiß hin getroffen haben. Seit anderthalb Jahren unternehmen wir Schritte, um die Sicherheit der Wahlurnen zu gewährleisten. Bei der anstehenden Wahl werden wir an jeder Urne Beobachter haben und sie werden dort von Anfang bis Ende stehen. Gleichzeitig werden die Anwaltskammern den Schulen in Großstädten, in denen Wahlurnen aufgestellt sind, Anwälte zuweisen. Sollte es Probleme geben, werden unsere Wahlleiter diese Anwälte anrufen und sie werden eingreifen. Mit anderen Worten: Wir als Republikanische Volkspartei sorgen dafür, dass alle Voraussetzungen für die Sicherheit der Wahlen gegeben sind.
Sie selbst sind ein ausgesprochener Kritiker des türkischen Justizsystems, was Sie als ausgehöhlt und politisiert bezeichnen. Fürchten Sie, für solche Aussagen im Gefängnis zu landen?
Wo es keine Demokratie und keine Rechtsstaatlichkeit gibt, muss ein Politiker alle möglichen Risiken in Kauf nehmen. Diese Fakten können wir der Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Im Gegenteil, wir müssen sie den Menschen in allen Einzelheiten darlegen: Es gibt ein reales Risiko. In der Vergangenheit bin ich bereits fast gelyncht worden, es gab einen Angriff einer Terrororganisation, es wurde auch eine Kugel auf mich abgefeuert, ich bin bedroht worden, ich kenne das alles, aber ich bin entschlossen, niemals einen Schritt zurückzutreten. Niemals! Wir werden das schon alles durchstehen, daran glaube ich wirklich, auch wenn ich sehe, wie sie uns beispielsweise durch die Justiz unter Druck setzen wollen. Ich sehe, dass man uns mit bestimmten eingereichten Klagen zum Schweigen bringen will. Aber wir werden all das schaffen und diesem Land wahre Demokratie bringen.
Wie schauen Sie auf Berichte über Erdogans Gesundheitsprobleme?
Ich habe ihm via Twitter beste Genesungswünsche geschickt. Ich will, dass mein politischer Gegner gesund ist. Deswegen wünsche ich ihm, dass es ihm bald besser geht und, dass er bald wieder im Wahlkampf mitmischt.
Mit Kemal Kılıçdaroğlu sprach Kavita Sharma