Brite in Ukraine schwer verletzt "Ich hörte die Drohne erst 30 Sekunden bevor sie mich traf"
10.03.2025, 18:21 Uhr Artikel anhören
"Ich habe einige der Prothesen gesehen und sie sind ziemlich cool", zeigt sich Scott optimistisch über seine Zukunft als Kriegsversehrter.
Der Brite Eddy Scott gab seinen lukrativen Job als Jacht-Segler auf, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Bei einem russischen Drohnenangriff in Pokrowsk wurde der 28-Jährige schwer verletzt, als er gerade dabei war, Zivilisten zu evakuieren. Seine Nächstenliebe kostete ihn "nur einen Arm und ein Bein", scherzt er im Interview mit ntv.de. Und er erzählt, was der erste Drohnenkrieg für Zivilisten und Helfer bedeutet - und von seinem neuen Leben als Kriegsversehrter.
ntv.de: Eddy, Sie erholen sich gerade im Krankenhaus in Kiew von sehr schweren Verletzungen. Wie geht es Ihnen?
Eddy Scott: Danke, einigermaßen gut. Ich frühstücke gerade, wenn es Ihnen nichts ausmacht.
Wie ist denn das ukrainische Krankenhausessen?
Wie man es erwarten würde. Es ist in Ordnung, nur ein bisschen langweilig. Zum Glück bringen mir Freunde und Freiwillige immer wieder leckere selbstgemachte Sachen vorbei.
Im Januar haben Sie noch in der umkämpften Frontstadt Pokrowsk Menschen evakuiert - bis Ihr Wagen am 31. Januar Ziel einer russischen Drohne wurde. Wie kam es dazu, dass Sie diesen riskanten Job in einem Kriegsgebiet machten?
Ich lebe schon seit fast zehn Jahren nicht mehr in Großbritannien. Bevor ich hierherkam, reiste ich um die ganze Welt, segelte mit fantastischen Booten zu wunderschönen Orten und wurde sehr gut bezahlt. Aber es war sehr seelenlos, ein bedeutungsloser Job. Als der Krieg losging, saß ich auf diesem Boot unter reichen Leuten und sah aus der Ferne all diese Menschen, die in den Kampf zogen oder humanitäre Hilfe leisteten. Ich sah darin meine Chance, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ich habe einen Pickup-Truck gekauft und bin rübergefahren.
Was wussten Sie über das überfallene Land?
Als ich am 22. Oktober 2022 ankam, wusste ich kaum etwas über die Ukraine. Für mich war es nur ein osteuropäisches Land mit grauer, sowjetischer Architektur. Und diese Ansicht wurde sofort über den Haufen geworfen. Vom ersten Tag an war dieses Land unglaublich.
Was macht das Land für Sie so besonders?
Die Leute hier sind toll: Mittlerweile habe ich sogar eine Patentochter, obwohl deren Vater kaum Englisch spricht und ich kaum Ukrainisch kann. Das war für mich eine große Ehre. Alle Ukrainer, die ich getroffen habe, waren unglaublich nett. Ich denke, es ist unmöglich, sich nicht in die Ukraine zu verlieben.
Wie ging es für Sie los - sind Sie direkt an die Front gefahren?
Ich habe Uniformen an Soldaten ausgeliefert, zunächst in Bachmut. Darüber kam ich ziemlich schnell an die Frontarbeit mit Wasserlieferungen und weiteren Hilfslieferungen. Dann habe ich eine Weile bei Infrastrukturprojekten mitgeholfen, bevor ich schließlich in Vollzeit bei Evakuierungen mithalf. Alles, was ich getan habe, fühlte sich richtig an. Aber wissen Sie, ich mochte auch schon immer die Gefahr - ich bin neun Mal über den Atlantik gesegelt. Und hier konnte ich beides machen: verrückte Dinge tun und dabei etwas bewirken.
Wie kamen Sie dazu, Menschen zu evakuieren?
Am 24. Juli 2024 begann ich für die Hilfsorganisation Base UA zu arbeiten. Zunächst half ich dabei, Dächer in der Umgebung von Sveta Hrsk zu reparieren, die durch Artilleriebeschuss beschädigt worden waren. Als sie mich baten, Evakuierungen im Dezember 2024 durchzuführen, sagte ich zu. Es schien die richtige Gelegenheit mit dem richtigen Team zu sein.
Können Sie etwas über die Menschen erzählen, denen Sie helfen? Warum sind die noch dort?
Die meisten Leute, die zurückbleiben, sind alt. Sie würden lieber zu Hause sterben, als in eine Notunterkunft zu gehen, wo sie in einem Raum mit 30 anderen Leuten schlafen. Entweder sie kommen selbst irgendwann an den Punkt, an dem sie gehen wollen, oder wir können sie überzeugen, dass es lebenswert ist, rauszukommen. Es hilft, wenn wir ihnen eine konkrete Perspektive geben können.
Hatten Sie Angst, als Sie in Pokrowsk waren?
Wir arbeiten in zweiwöchigen Rotationen. Jedes Mal, nachdem ich frei hatte, war es noch gefährlicher. Man schaut auf die Monitore [der Drohnendetektoren], die sind nur am Piepen. Aber für mich ist es so: Ich habe in dem Moment einen Job zu erledigen, also denke ich nicht an die Angst. Aber ja, mein Gott, rückblickend war es furchterregend.
Es war gefährlicher als in Bachmut?
Wir hatten in Bachmut Aufklärungsdrohnen, aber keine First-Person-View-Drohnen oder Bomberdrohnen wie heute. Bachmut war meine erste brenzlige Erfahrung, aber ich habe damals nicht wirklich darüber nachgedacht, weil ich mit Profis unterwegs war. In Pokrowsk waren ich und mein Teamleiter Pylyp Rozhdestvenskyi die Profis. Wir waren dafür zuständig, zu entscheiden, wie lange wir an Orten bleiben sollten, und nach Drohnen Ausschau zu halten - die Leute verließen sich auf mich, wenn es darum ging, die Bedrohung einzuschätzen.
Wie haben Sie das gemacht?
Wir hatten keinen Störsender, denn das kostet viel und außerdem hat nur das Militär welche, also ist man ein bisschen schutzloser. Wir hatten einen Videodetektor und zwei Audiodetektoren, die aber ziemlich nutzlos waren. Es gibt also nichts, worauf man sich zu 100 Prozent verlassen kann. Die Antennen funktionieren bis zu einem gewissen Grad und Sie brauchen mindestens acht Antennen, um ein vollständiges Setup zu haben. Es ist also nicht so, dass Sie sich ins Auto setzen und automatisch geschützt sind.
Es ist eine ungeheure Verantwortung - wie gingen Sie damit um?
Vor jedem Einsatz haben wir alle Punkte in Bezug auf unsere Sicherheit doppelt überprüft: Öl- und Reifendruck am Van, unsere Erste-Hilfe-Sets. Mein Kollege Pylyp wusste, wo seine Tourniquets waren, er wusste, wie man sie anlegt [mit Tourniquets werden Arme und Beinen bei schweren Verletzungen abgebunden, um ein Verbluten zu verhindern, d.Red.]. Das hat mir das Leben gerettet.
Wie war es, als Sie angegriffen wurden? Gab es keine Warnung?
Ich habe die Drohne 30 Sekunden gehört, bevor sie uns traf, und keines unserer Geräte schlug an. Ich bezweifle aber, dass es eine Glasfaser-Drohne war, die für Detektoren unsichtbar ist. Normalerweise werden diese nicht auf Ziele wie uns angesetzt. Aber egal. Das Beste, was Sie tun können, ist, in einem klar gekennzeichneten Auto zu fahren und Kleidung zu tragen, die darauf hinweist, dass Sie Zivilist sind. Wenn Sie angeschossen werden, ist das offensichtlich ein Kriegsverbrechen. Ich kann Ihnen also nicht sagen, ob es eine Glasfaser- oder eine normale Drohne war. Sicher ist nur, dass es eine RPG-Sprengkopfladung war, die durch den Wagen und durch mich durch ging.
Das ist im Grunde ein Panzerabwehr-Sprengkopf …
Richtig, es wird gegen schwer gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, so dass wir trotz eines gepanzerten Autos keine Chance hatten.
Wie ist es, zu wissen, dass jemand mit Absicht einen solchen Sprengkopf auf Sie abgeworfen hat?
Um ehrlich zu sein, ärgert es mich. Aber sauer auf den Kerl zu sein, macht keinen Unterschied. Wir haben alles richtig gemacht. Wir hatten ein deutlich gekennzeichnetes Fahrzeug, trugen weiße Warnwesten. Es war also keine Frage, wer wir sind. Dass dies ein so leicht nachzuweisendes Kriegsverbrechen war, gibt mir irgendwie ein besseres Gefühl. Wir hätten nichts tun können, um es zu vermeiden - außer nicht dorthin zu fahren, aber das ist keine Option.
Was passierte, nachdem Sie die Drohne hörten? Können Sie sich noch an den Moment danach erinnern?
Ja, ich erinnere mich also an so ziemlich alles. Ich hatte den Van angehalten, um ein paar Broschüren über die Evakuierungen zu verteilen. 30 Sekunden später sah ich einen Feuerball vor meinem Gesicht, gleichzeitig fühlte es sich an, als ob jemand mir gegen die Schulter boxt, buchstäblich wie ein Schlag. Ich dachte zwei Sekunden lang darüber nach, wie es mir geht.
Doch als ich versuchte, das Lenkrad zu drehen, spürte ich, wie sich meine Schulter drehte, und sah gleichzeitig, dass sich mein Arm auf dem Lenkrad nicht drehte. Und an diesem Punkt wusste ich, dass es schlimm war. Dann sah ich auf das Bein. Es war zerfetzt. Ich dachte nur: Oh, verdammt, das ist schlimm. Und dann kam der Schmerz. Also zog ich ein Tourniquet heraus, konnte aber nichts damit machen - mein anderer Arm hielt immer noch das Lenkrad.
Ein beängstigender Moment …
Da kam schon Pylyp und begann mit der Versorgung, legte die beiden Tourniquets an. Er schaffte es in unter zwei Minuten - es ist unglaublich, dass er eine Aderpresse um das herumbekommen hat, was von meinem Arm übrig war. Gestern hat mir jemand erzählt, dass ich noch versucht habe, den Gang einzulegen, während Pylyp mich versorgt hat. Ein Mann, den wir evakuiert hatten, nahm meine Hand vom Schalthebel, und ich versuchte es sofort wieder.
Das klingt nach einem Schock …
Es gibt kleine Dinge, die ich nicht mehr weiß, obwohl ich die ganze Zeit bei Bewusstsein war. Ich dachte, wir müssen los und weiter, es wird eine zweite Drohne geben. Mein adrenalinvernebeltes Gehirn dachte an unsere Jungs, die einen Monat zuvor zwei Mal hintereinander angegriffen wurden.
Wie kamen Sie von dort weg?
Es war reiner Zufall, dass ein Militärfahrzeug hinter uns hielt. Auf der Fahrt habe ich nur gedacht: Ich will nicht sterben. Dann wiederum gab es Momente, in denen ich dachte: Ich könnte auch einfach einschlafen und alles wäre einfacher, keine Schmerzen. Ich schätze, entweder habe ich das nicht zugelassen oder die Sanitäter haben es verhindert. Sie brachten mich zu einem Drohnenübungsplatz. Von dort ging es im Krankenwagen nach Dobropillya, wo sie mir Arm und Bein amputiert haben. Das war eine Höllenfahrt, ich war die ganze Fahrt bis zum ersten Krankenhaus bei Bewusstsein. Und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich im Krankenhaus in Dnipro wieder aufgewacht bin.
Was war Ihr erster Gedanke?
Mir war klar, was für ein unglaubliches Glück ich hatte, mit dem Leben davonzukommen. Ich hatte so viel Glück, nicht nur mit der Verkettung von Umständen an dem Tag, sondern mit all meinen Freunden um mich herum, mit der Behandlung, die ich hier bekomme. Klar, die Erfahrung, in die Luft gesprengt zu werden, war entsetzlich. Es war die schlimmste Erfahrung meines Lebens, aber ich betrachte das auch als eine Art Abenteuer. Ich bin gespannt. Ich habe einige der Prothesen gesehen und sie sind ziemlich cool. Ich kann es kaum abwarten, die auszuprobieren.
Haben Sie sich schon über die Zukunft Gedanken gemacht?
Ich habe so viele Pläne für die Zukunft. Die meisten von uns im Donbass leben von Tag zu Tag. Man denkt nicht daran, Geld zu sparen, ein Haus zu kaufen und eine Frau und Kinder in der Ukraine zu haben, man denkt nur ans Überleben. Und so hatte ich vorher gewissermaßen keine Zukunft. Jetzt habe ich Möglichkeiten, die ich vorher nie hatte.
Was wollen Sie damit tun?
Ich kann Lobbyarbeit leisten, ich kann auf eine Weise helfen, wie ich der Ukraine vorher nie hätte helfen können. Ich habe viel mehr Reichweite. Ich will das Land erkunden, denn das habe ich noch nicht getan. Im Juni steht die Hochzeit meines Freundes an. Ich habe Ziele für meine Reha, denn ich habe den Atlantik nur neun Mal überquert - ich muss also noch das zehnte Mal machen.
Mit Eddy Scott sprach Kristina Thomas
Quelle: ntv.de