Politik

TV-Journalistin wird zur Heldin Ihr Name ist Marina Owssjannikowa!

Es ist zweifellos die bislang spektakulärste Protestaktion in Russland, seit Präsident Putin den Überfall auf die Ukraine angeordnet hat. Und die mutigste. Vor laufender TV-Kamera fordert die Journalistin Marina Owssjannikowa: "Kein Krieg." Im Schnellverfahren wird sie abgeurteilt.

Die Szene, die für einige Sekunden am Montagabend auf dem russischen Staatssender "Channel One" über den Bildschirm flimmerte, ist bezeichnend für Russland in diesen Tagen. Zu sehen sind zwei Frauen. Im Vordergrund: Jekaterina Andrejewa, die scheinbar seriös die russische Propaganda von der "Militäroperation" in der Ukraine verliest. Dahinter auf einmal ihre bisherige Kollegin Marina Owssjannikowa, die einen selbst beschriebenen Pappkarton in die Kamera hält: "Kein Krieg."

Dass Andrejewa ein rotes Herz auf ihrem Shirt trägt, während sie die Gräuel verharmlost, ist dabei lediglich der Gipfel des Zynismus. Verwundern kann dies nicht. Die Sprecherin der russischen Hauptnachrichtensendung "Wremja" ist durch und durch linientreu. Nach der russischen Annexion der Krim soll sie die Ukraine bereits auf eine Sanktionsliste gesetzt haben.

Andrejewas Instagram-Account - inzwischen in Russland mitsamt dem kompletten Netzwerk abgestellt - zählt über eine halbe Million Follower. Hier postete sie etwa vor drei Tagen noch einen Propaganda-Clip unter der Überschrift "Stop Hating Russians" ("Hört auf, Russen zu hassen"), der eine allgemeine Feindseligkeit gegenüber Russen unterstellt. Während sich das Video noch als harmloser Wunsch nach Völkerverständigung geriert, wird Andrejewa in ihrem Kommentar deutlich: "Wenn ein Volk wegen seiner Nationalität gehasst wird, dann ist das Nazismus, Faschismus und andere Scheiße. Und es stinkt nach Hitler, Goebbels, Himmler und Hess", zieht die TV-Moderatorin vom Leder, um schließlich zu drohen: "Wir haben der Nazi-Hydra 1945 das Genick gebrochen. Ich sehe keinen Grund, diese Zeit zu vergessen."

Die ewig gleiche Mär

Es ist die ewig gleiche Mär, die überall anders das Böse wittert und Russland die Rolle des stets gepeinigten Unschuldslamms zuschreibt. Die Mär, die in diesen Tagen vollends die Rolle von Täter und Opfer verkehrt. Die Mär, wonach die Russen unfair gemobbt werden und nicht etwa Wladimir Putin gerade im Namen seines Volkes in der Ukraine Massenmord begeht. Und eine Mär, die inzwischen mit so martialischem Getöse daher kommt, dass alle anderen Nazis seien, denen "das Genick gebrochen" gehört.

Wie gesagt: Vorgetragen wird diese Weltsicht - wenn auch im "privaten" Rahmen eines Instagram-Accounts - nicht von irgendwem. Vorgetragen wird sie von einem der wichtigsten Aushängeschilder der russischen Hauptnachrichten.

"Hier werdet ihr belogen"

Für eben jene Nachrichten arbeitete bislang auch Marina Owssjannikowa, die Andrejewa in dieser Szene im TV-Studio nicht etwa nur in die Parade fährt und ihr die Show stiehlt. Sie vollführt vielmehr die bislang zweifellos spektakulärste Protestaktion gegen Putins Krieg, die es bis dato von mutigen Menschen in Russland gegeben hat. "Beendet den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen. Russen gegen den Krieg", steht neben "No war" auf ihrem Schild. Dazu ruft sie mehrmals "Nein zum Krieg!", ehe der Sender Bilder aus einem Krankenhaus einblendet und sie vermutlich aus dem Studio eskortiert wird.

Selbst russische Medien kamen nicht darum herum, über den Vorfall zu berichten. Der Agentur Tass zufolge wurde Owssjannikowa 1978 in Odessa geboren. Damals gehörte die Hafenstadt am Schwarzen Meer zur Sowjetunion, heute ist sie ukrainische Metropole. Nach eigenen Angaben auf ihren Profilen in den sozialen Netzwerken studierte Owssjannikowa an der Staatlichen Universität Kuban in Krasnodar sowie bis 2005 an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst in Moskau. Die mittlerweile 44-Jährige hat zwei Kinder - einen Sohn und eine Tochter. Sie lebt in Moskau und soll laut einem russischen Medienbericht mit einem Mitarbeiter des Senders Russia Today verheiratet sein, der in der EU vor Kurzem verboten wurde. Owssjannikowa selbst arbeitete früher fürs Lokalfernsehen, ehe sie zu "Channel One" wechselte.

Wassersportlerin und Hundeliebhaberin

Wie aus einem Interview Owssjannikowas mit dem Portal " Yuga.ru" aus dem Jahr 2002 hervorgeht, war sie während ihres Studiums Wettkampfschwimmerin. Eine Wasserratte ist sie offenbar geblieben. "Fitness und Schwimmen auf dem offenen Wasser", heißt es unter anderem in der Profilbeschreibung auf ihrem Instagram-Account, der jedoch auf "privat" gestellt ist.

Auf ihrer Facebook-Seite hingegen kann man sie nicht nur bei ihrer Arbeit in der Redaktion, sondern auch gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Golden Retriever sehen - Owssjannikowa ist Hundeliebhaberin. Zudem gibt sie sich weltgewandt. So postete sie diverse Fotos aus Ländern, in die sie gereist ist, darunter etwa Argentinien, Österreich, die Schweiz und Italien.

Wann Owssjannikowa in Opposition zur Politik des Kremls geraten ist - schon vor oder erst nach dem Überfall auf die Ukraine -, ist nicht bekannt. Bevor sie das TV-Studio stürmte, nahm sie jedenfalls ein Video auf, in dem sie ihren Protest erklärt und das mittlerweile unzählige Male im Netz geteilt wurde.

"Ich schäme mich"

"Das, was jetzt in der Ukraine geschieht, ist ein Verbrechen. Und Russland ist der Aggressor. Und die Verantwortung für diese Aggression liegt nur auf dem Gewissen eines Menschen - und dieser Mensch ist Wladimir Putin", erklärt sie darin. Dazu trägt sie eine Kette in den Farben Russlands und der Ukraine um den Hals.

"Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter ist Russin - und sie waren nie Feinde. Diese Kette an meinem Hals ist wie ein Symbol dafür, dass Russland den Bruderkrieg sofort stoppen muss und unsere Brudervölker sich noch versöhnen können", sagt Owssjannikowa weiter. Mit Blick auf ihre bisherige Arbeit fügt sie hinzu: "In den vergangenen Jahren habe ich leider bei 'Channel One' gearbeitet und mich mit Kreml-Propaganda beschäftigt. Ich schäme mich jetzt sehr dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass vom TV-Bildschirm gelogen wurde. Ich schäme mich dafür, dass ich zuließ, dass Russen in Zombies verwandelt wurden."

Doch die Journalistin geht noch weiter. Sie kritisiert, dass niemand demonstriert habe, als "der Kreml Nawalny vergiftet hat". Sie bedauert, dass sie "dieses menschenfeindliche Regime einfach nur stillschweigend beobachtet" hätten. Und sie konstatiert: "Jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewendet." An ihre Mitmenschen in Russland appelliert sie: "Es liegt nur an uns, diesen ganzen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts. Sie können uns nicht alle einsperren."

Kreml spricht von "Rowdytum"

Owssjannikowas Facebook-Seite quillt inzwischen über mit Kommentaren, die ihr Bewunderung und Respekt zollen. "Danke für deinen Mut" oder aber "Du bist eine Heldin", sind nur einige der Zehntausenden Anmerkungen, die Nutzer und Nutzerinnen unter ihren jüngsten Posts hinterlassen haben.

Nach ihrer Protestaktion schien Owssjannikowa zunächst wie vom Erdboden verschluckt. Anwälte hätten sie über Stunden nicht erreichen können, hieß es. Dann aber tauchte am Dienstagnachmittag bei Twitter ein Foto auf, das sie mit dem Menschenrechtsanwalt Anton Gashinsky und unversehrt zeigte. "Und hier ist sie im Gericht! Marina Owssjannikowa", war da zu zu lesen.

Die Befürchtung, die zweifache Mutter werde einen hohen Preis für ihr beherztes Engagement zahlen müssen, war groß. Schließlich sieht ein neues Gesetz in Russland bis zu 15 Jahre Haft für angebliche Falschinformationen über den Krieg vor. Zudem bezeichnete Kremlsprecher Dmitri Peskow Owssjannikowas Aktion als "Rowdytum". Wegen dieses Vorwurfs waren seinerzeit auch Mitglieder der Gruppe Pussy Riot zu immerhin zwei Jahren Haft verurteilt worden.

Umso erstaunlicher ist die Nachricht, die dann bereits am frühen Abend eintrudelte. Das Urteil gegen Owssjannikowa sei schon ergangen, teilte das Bürgerrechtsportal OWD-Info mit. Sie müsse lediglich eine Geldstrafe von 30.000 Rubel (etwa 226 Euro) zahlen. Das neue Gesetz sei nicht gegen sie angewendet worden - "zunächst", wie es heißt.

Dabei habe sich Owssjannikowa auch im Gerichtssaal noch standhaft gezeigt. "Ich erkenne meine Schuld nicht an", soll sie gesagt haben. Und weiter: "Ich bin überzeugt, dass Russland ein Verbrechen begeht." Russland sei "der Aggressor in der Ukraine". Ob es wirklich bei der Geldstrafe für Owssjannikowa bleibt, dürfte derzeit in den Sternen stehen. Für ihren Mut allerdings wird sie sicher noch lange gefeiert werden.

Quelle: ntv.de

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