Politik

Ukraine-Talk bei Illner "In Brüssel sind wir unten durch"

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In Kiew wird zeitweise die Stromversorgung unterbrochen. Die Attacken auf die Infrastruktur sollen nach Russlands Kalkül weitere Fluchtbewegungen in den Westen auslösen.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Im Krieg gegen die Ukraine zerstört die russische Armee momentan vor allem wichtige Infrastruktur. Das bringt auch für die westlichen Länder und insbesondere für Deutschland neue Herausforderungen mit sich, die bei Maybrit Illner diskutiert werden.

Die russische Armee verliert in der Ukraine den Krieg am Boden. Seit Wochen zerstört sie kritische Infrastruktur. In der Hauptstadt Kiew müssen die Bewohner Strom sparen. Es droht ein harter Winter. Unterdessen behauptet der Kreml, die Ukrainer seien in der Lage, schmutzige Bomben zu bauen und einzusetzen. Die Taktik der russischen Seite ist klar: Es geht um die Zermürbung der ukrainischen Bevölkerung – aber auch um die Schwächung des europäischen Zusammenhalts, wie bei der Diskussion bei Maybrit Illner im ZDF deutlich wird.

Sergey Lagodinsky, Abgeordneter der Grünen im Europa-Parlament, äußert sein Unverständnis über die Forderung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nach diplomatischen Initiativen zur Beendigung des Krieges. "Wir müssen auch unter uns klärende Gespräche führen, wie wir eine Kanzlerpartei dazu bringen, eine einheitliche Linie zu fahren", fordert der in Russland geborene Politiker. Die unterschiedlichen Signale aus der SPD beschädigten nicht nur die Koalition, sondern auch die EU. "In Brüssel sind wir als Deutschland unten durch, wenn wir schauen, wie die osteuropäischen Staaten über uns reden. Wir haben jetzt ein Problem mit Frankreich. Wir haben noch nicht begriffen: Die EU muss zusammengehalten werden", so Lagodinsky. Er vermisse Krisenführung von den höchsten Stellen in Deutschland, sagt er.

Mit den Aktionen der letzten Wochen habe Putin das Tor für Verhandlungen geschlossen, fügt Russland-Expertin Alina Fix vom Council on foreign Relations in Washington hinzu. Und die stellvertretende EU-Parlamentsvorsitzende Katarina Barley von der SPD macht klar, dass niemand in ihrer Partei "Verhandlungen in dieser Form" führen wolle, auch nicht Mützenich. Stattdessen fordert sie angesichts der russischen Angriffe auf die Ukraine: "Wir müssen weitermachen, den Druck auf die russische Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Die Möglichkeit für Putin, Nachschub für sein Militär zu organisieren, müssen wir weiter erschweren."

"Bilder auf dem Niveau eines Zwölfjährigen"

Putin verfolge mit seiner Terrorstrategie im Wesentlichen zwei Ziele. Die russische Armee lege es darauf an, die ukrainische Wirtschaft zu zerstören und so die Lieferungen von Nachschub aus dem Westen zu erschweren, analysiert Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on foreign Relations (ECFR), einer Denkfabrik, die sich für eine starke Rolle der EU in der Welt einsetzt. Gressel erklärt: "Der Nachschub an militärischem Gerät und Munition ist die Lebenslinie der ukrainischen Armee. Der Krieg kostet das Land zwischen 30 und 40 Millionen Euro pro Tag. Das Geld muss irgendwo herkommen. Je mehr Wirtschaft in der Ukraine zerstört wird, desto weniger kann die Ukraine produzieren, und desto weniger kann die Ukraine für die Lieferungen bezahlen. Das Geld muss also bevorschusst, kreditiert oder geschenkt werden." Putins Kalkül sei, dass es dem Westen irgendwann reiche, so Gressel. "Er baut darauf, dass jemand auf den Tisch haut und sagt, jetzt müsst ihr die Annexionen akzeptieren."

Die Behauptung des Kremls, die Ukraine sei in der Lage, eine schmutzige Bombe zu bauen, nennt Gressel "Schwachsinn". Die von Russland als Beweis veröffentlichten Bilder seien "auf dem Niveau eines Zwölfjährigen, der sich was googelt." "Dass sich Putin damit in der Außenpolitik lächerlich macht, wird ihm sicherlich noch jemand sagen."

"Es gibt Luft nach oben"

Die beiden Experten sind vor allem enttäuscht über die schleppende europäische Unterstützung für die Ukraine. Gressel: "Da sind viel zu viele politische Blockaden drin, da ist viel zu viel Unentschlossenheit drin. Das können wir uns nicht lange leisten."

"Da ist noch Luft nach oben", sagt auch Liana Fix. So komme aus Kiew die Kritik, dass von den Neun Milliarden Euro Kredit, den die EU gewährt habe, sechs Milliarden noch nicht ausgezahlt worden seien. Im Gegensatz zur EU überwiesen die Vereinigten Staaten monatlich Geld nach Kiew, so Fix. "Außerdem gibt es eine Lücke der Schutzleistungen zwischen der EU und den USA, die ständig größer wird."

Das Problem sei, dass Deutschland nicht bereit sei, eine Führungsrolle in diesem Krieg einzunehmen, kritisiert Liana Fix. Das hätten stattdessen die USA getan. "Die Europäer lehnen sich zurück in dem Gefühl, dass es sicherer ist, im Windschatten der USA zu agieren."

"Wir haben eine gespaltene USA"

Für Gustav Gressel ist dabei unklar, wie lange die USA diese Position noch aufrecht erhalten werden. "Wir haben eine gespaltene USA", sagt er. "Und wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Amerikaner immer die Führung ausüben werden in der Stärke, wie sie das bisher gemacht haben." Schon jetzt lägen in Washington Verteidigungs- und Außenministerium über die Rolle der Vereinigten Staaten im Streit. Gressel: "Wenn wir verhindern wollen, dass Russland die dominante Militärmacht in Europa wird und über die Kraft seiner militärischen Dominanz die Ordnung in Europa diktieren wird, müssen wir dafür sorgen, dass es diesen Krieg verliert." Dazu müssten Waffenlieferungen an die Ukraine europäisch koordiniert werden.

Auch Liana Fix ist sich über die zukünftige Rolle der USA nicht sicher. Sie glaubt, dass bei den "Mid-Terms", also den Zwischenwahlen in den USA am übernächsten Dienstag, Trump-loyale Republikaner zurückkommen werden. Die würden dann die Unterstützung für die Ukraine in Frage stellen, denn mit China hätten die USA ein weiteres Problem zu lösen, und das hätte Vorrang.

Was das für Europa bedeutet, fasst am Ende der Sendung Grünen-Politiker Lagodinsky eindrucksvoll zusammen: "Wir leben in einer Welt, die sich total verändert hat. Und auch wir müssen uns verändern. Die Rolle, die wir finden müssen, ist eine EU, die sich um andere Länder aktiv bemüht, die sich geostrategisch positioniert und entwickelt. Dahin müssen wir kommen. Da erwarte ich Führung von uns allen."

Quelle: ntv.de

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