Unterricht im Bildungsbunker In Charkiw lernen Schüler in U-Bahnhöfen


Die Grundschüler beim Unterricht in der U-Bahn-Schule.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Wenn in Charkiw die Sirenen heulen und die Bewohner der zweitgrößten Stadt der Ukraine in Kellern und Bunkern Schutz suchen, fährt die Grundschullehrerin Anna Neelowa mit dem Unterricht einfach fort. Denn sie und ihre Schüler sind schon in Sicherheit, tief unter der Erde, in der ersten U-Bahn-Schule der Welt.
Auch wenn der Kreml 20 Monate nach Kriegsbeginn weiterhin behauptet, in der Ukraine nur militärische Ziele anzugreifen, zeigt die Realität ein anderes Bild. Ganze Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, zahlreiche Wohnblocks, Krankenhäuser, Kirchen dem Erdboden gleichgemacht. Auch Hunderte Schulen und Kindergärten im ganzen Land liegen in Trümmern. Nach Angaben des ukrainischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft wurden Stand Ende Juli mehr als 330 Bildungseinrichtungen zerstört und 3199 beschädigt – ein großer Teil davon in der Oblast Charkiw im Nordosten des Landes. Der Gebietsverwaltung zufolge ist fast die Hälfte aller Bildungseinrichtungen der Region zerstört oder beschädigt worden.
Da der reguläre Schulbetrieb durch die ständigen Angriffe der Russen unmöglich geworden ist, und der Digitalunterricht keine dauerhafte Lösung zu sein schien, entwickelte die Stadt Charkiw eine Alternative. Als die Sommerferien Anfang September vorbei waren, ging es für Hunderte Charkiwer Schüler unter die Erde – in die nach Behördenangaben erste U-Bahn-Schule der Welt. In mehreren U-Bahnhöfen der Millionenstadt wurden Unterrichtsräume für insgesamt 60 Klassen eingerichtet.
"Keine andere Stadt der Welt hat eine solche Erfahrung", sagte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, bei der Einweihung der U-Bahn-Schule Anfang September. "Wir haben alles durchdacht: Wie die Kinder zur Schule kommen, wie sie ihre Zeit verbringen und wie die Lehrer mit ihnen arbeiten werden", erklärte Terechow. "Wenn die Eltern sehen, welche Bedingungen hier geschaffen wurden, wird die Zahl der Anmeldungen steigen, da bin ich mir sicher".
Heute lernen fast Tausend Schüler im Untergrund: In fünf Bahnhöfen wurden Klassenräume für Kinder aus 19 örtlichen Schulen eingerichtet. Der Unterricht findet in zwei Schichten statt – vormittags und nachmittags. Die Kinder werden täglich in Begleitung einer Lehrkraft mit einem Bus an die U-Bahnhöfe gebracht, dann geht es für drei Stunden unter die Erde.
Unterricht geht bei Raketenalarm weiter
Im U-Bahnhof "Universität" im Zentrum von Charkiw lernen in der ersten Schicht nur Grundschüler. Hier gibt es sieben Klassenräume, ein Arzt- und ein Spielzimmer. In der Pause bekommen die Kinder einen kostenlosen Imbiss. Einen großen Vorteil des Unterrichts in der U-Bahn sehen die Lehrer in der direkten Kommunikation mit den Kindern: An drei Tagen in der Woche lernen die Schüler im Klassenzimmer, an den restlichen zwei digital. Noch wichtiger ist die Sicherheit der Schüler und Lehrer – hier muss der Unterricht nicht bei jedem Raketenalarm unterbrochen werden, da die Bahnhöfe der Charkiwer U-Bahn meist tief unter der Erde liegen und als sicher gelten.
Die Klassenzimmer in den U-Bahnhöfen sind mit allem ausgestattet, was die Schüler im Unterricht brauchen: Schreibtische, Stühle, Tafel, Whiteboards, WLAN. Auch Psychologen stehen den Schülern zur Seite. "Sie sind die ganze Zeit bei den Kindern, beobachten sie, helfen ihnen, wenn nötig, und arbeiten mit ihnen, was in der 'normalen Schule' nicht der Fall war", sagt die Grundschullehrerin Anna Neelowa im Gespräch mit ntv.de. Sie unterrichtet im Bahnhof "Universität" und erklärt, dass die Kinder im Krieg schon vieles durchgemacht hätten. Deshalb versuche sie, ihre eigenen Sorgen nicht auf die Schüler zu übertragen, sondern alles zu tun, damit die Kinder eine gute Bildung und positive Emotionen bekommen.
Für viele Eltern ist der U-Bahn-Unterricht eine Entlastung. Einige Mütter und Väter hätten Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken, sagt Neelowa. Das gelte aber nicht für die U-Bahn-Schule. Während der Bürgermeister noch Anfang September die Eltern von den Vorteilen der U-Bahn-Schule überzeugen musste, übertrifft die Nachfrage inzwischen das Angebot. Neelowa findet es schade, dass die U-Bahn-Schule nicht noch mehr Kinder aufnehmen kann, sie wünsche sich einen sicheren Unterricht für alle Kinder der Stadt. Doch "leider gibt es momentan keine Möglichkeit, die Zahl der Schüler, die bei uns lernen, zu erhöhen", so die Lehrerin.
Quelle: ntv.de