Reisners Blick auf die Front "In einen solchen Krater kann man ein Haus packen"
24.06.2024, 20:35 Uhr Artikel anhören
Aufräumarbeit nach einem russischen Luftangriff auf Charkiw
(Foto: picture alliance/dpa/Ukrinform)
Bei Charkiw haben die Ukrainer die Initiative zurückgewonnen, Russland bezichtigt Kiew eines Angriffs mit mehreren Toten auf der Krim und stößt im Donbass weiter vor. Oberst Markus Reisner analysiert die Lage im Ukrainekrieg.
ntv.de: Der Kreml droht den USA nach einem Raketeneinschlag mit Toten und Verletzten an einem Strand auf der besetzten Krim. Das sei ein gezielter Angriff der Ukraine gewesen, mit Hilfe der USA. Was ist dran an der Behauptung?
Markus Reisner: Angriffe auf die Halbinsel Krim sind Teil der ukrainischen Kampagne, die wir seit etwa zwei Wochen sehen. Sie versuchen, die russischen Fliegerabwehrsysteme zu treffen, S300 und S400 Systeme, sowie wichtige Kommunikationseinrichtungen, die vor allem auf der Krim stationiert sind und auf russischem Boden nordöstlich von Kiew. Es ist gut zu erkennen, dass auf der Krim und nördlich von Charkiw ATACMS und HIMARS Raketen eingesetzt werden, um Flugabwehrstellungen zu treffen. Wenn die russische Seite aber eine dieser Raketen abwehrt, wo auch immer, dann fällt sie zu Boden.
Zum Beispiel an einem Strand, wo Leute baden?
Dazu gibt es zwei Narrative: Das ukrainische sagt, eine Rakete ist von der russischen Luftverteidigung getroffen worden und herabstürzende Trümmer haben Zivilisten verletzt und auch getötet. Das zweite Narrativ, das von russischer Seite, sagt, die Ukraine habe ganz gezielt mit ATACMS Raketen die Strände angegriffen.
Wenn Sie sich die Videos im Netz anschauen, die an den Stränden gedreht wurden: Würde die Lage dort zu einem gezielten ATACMS-Angriff passen?
Die Ukraine setzt derzeit vor allem die älteste Version von ATACMS ein, sie stammt noch aus den 1990er Jahren. Sie hat aber zwei wichtige Vorteile gegenüber den neueren Varianten. Zum einen ist sie zur Zielfindung nicht auf GPS angewiesen, sondern findet ihren Weg mit einem sogenannten Kreiselkompass und erkennt selbst, wo sie sich gerade befindet - allerdings nicht so punktgenau, wie GPS das könnte.
Trotzdem ein Vorteil, weil die Russen so viele Störsender im Einsatz haben, die GPS-Systeme vom Weg abbringen?
Genau. Das ist der eine Vorteil der alten ATAMCS-Variante: Gegen russische Störsender ist sie unempfindlich. Der zweite ist die Munition, und das ist wichtig für die Beurteilung der Lage dort am Strand. Die von der Ukraine eingesetzten ATACMS tragen vor allem Streumunition. Sie werden damit zur Flächenwaffe und nicht zur Präzisionswaffe. Im Endanflug dreht sich die Waffe in der Luft und wirft dabei lauter kleine Bomblets ab. Die detonieren, wenn sie am Boden aufschlagen und haben eine absolut verheerende Wirkung.
Können Sie die konkret beschreiben? In welchem Radius kann diese Streumunition welchen Schaden anrichten?
Die Rakete kann bis zu 950 einzelne Bomblets streuen, die in einer vorher festgelegten Höhe ausgestoßen werden. Jeder Splitter dieser Bombe hat einen Wirkungsradius von 15 Metern. Mit 950 Bomblets lässt sich eine Fläche von rund 33.000 Quadratmetern bedecken. Der Wirkungskreis hätte also einen Durchmesser von mehr als 200 Metern. Allerdings wäre das geschädigte Gelände eher ein Oval, da die Rakete die Bomblets noch im Flug streut.
Was folgt für Sie daraus?
Dieser Krim-Strand war gut besucht. Wenn die Ukrainer ihn tatsächlich gezielt und erfolgreich angegriffen hätten, dann wären Dutzende, im schlimmsten Fall hundert Menschen zu Tode gekommen. Das Ausmaß des Schadens am Strand, die - verglichen damit - niedrige Zahl an Todesopfern, sprechen nicht dafür, dass dort eine Streubombe gezielt zum Einsatz gekommen ist. Aus meiner Sicht ist viel wahrscheinlicher, dass die russische Seite eine Rakete abgeschossen hat. In der Folge sind Trümmer der Rakete auf die Menschen am Strand gefallen.
Aber wenn die Russen eine ukrainische ATACMS abschießen, vermeiden sie dann nicht, das über einem belebten Strand mit russischen Badegästen zu tun?
Das Fliegerabwehrsystem holt die Rakete dort runter, wo es sie gerade erwischt. Das nimmt keine Rücksicht darauf, was sich unterhalb am Boden befindet. Sie können dies auch nicht exakt steuern. Wir sehen dies ja auch bei den Abwehrversuchen der Ukrainer in den großen Städten.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Wie riskant ist die Situation jetzt? Die US-Botschafterin wurde einbestellt, das russische Außenministerium erklärt, die USA seien mitverantwortlich für die Opfer, weil sie bei der Flugkoordination geholfen hätten.
Ereignisse dieser Art werden sofort zum Spielball der Kriegspropaganda. Die russische Entrüstung über den vermeintlichen Angriff auf den Krim-Strand wird in den sozialen Netzwerken zusätzlich befeuert. Man argumentiert, eine amerikanische Drohne sei vor Sewastopol gekreist und habe das Ziel zugewiesen. Wir sehen hier, wie sich Russland sein Narrativ Stück für Stück zurechtzimmert. Auch die offensichtlich terroristischen Angriffe in Dagestan werden auf Youtube der Ukraine und der NATO in die Schuhe geschoben. Da viele Russen nur eingeschränkt Zugang zu nichtstaatlichen Informationen haben, ergibt sich für diese Leute aus der Meldung und dem Narrativ dazu ein geschlossenes Bild. Es geht also weniger darum, wie wir hier diese Ereignisse interpretieren, sondern wie der Kreml das der russischen Bevölkerung präsentiert.
Ist die US-Drohne erfunden?
Das ist sie nicht. Es ist eine Aufklärungsdrohne des Typs Global Hawk, die dort regelmäßig fliegt. Sie spielt auch tatsächlich gemeinsam mit anderen Drohnen eine Rolle bei der Zielaufklärung für Angriffe der ukrainischen Truppen. Die Behauptung ist also gar nicht weit hergeholt. Aber wenn diese Trümmer, die Badegäste getroffen haben, mutmaßlich kein gezielter Angriff der Ukrainer waren, dann sind auch die USA nicht daran beteiligt.
Wenn wir einen Blick auf die Front werfen: Im Raum Charkiw sahen Sie vergangene Woche positive Anzeichen, dass die Ukraine die russische Offensive abwehren könnte. Wie ist die Lage aktuell?
Wir haben dort im Moment aus meiner Sicht eine gewisse Parität. Das Momentum geht eher von den Russen auf die Ukrainer über, die dort etwa 40.000 Mann im Einsatz haben. Diese wehren die Offensive der russischen Truppen erfolgreich ab, fehlen allerdings schmerzhaft an anderer Stelle, etwa weiter südlich, bei den Kämpfen im Donbass. Dort sind die Fortschritte Russlands marginal, aber doch vorhanden. Zwei Hauptstoßrichtungen sind zu erkennen: Heftige Kämpfe gibt es bei Tschassiw Jar, wo die russische Armee nach wie vor versucht, einen Übergang über den Donbass-Kanal zu schaffen. Der ist ein natürliches Hindernis und sehr schwer in Besitz zu nehmen.
Wie sieht es bei Otscheretyne aus, wo die Russen vor Kurzem die zweite Verteidigungslinie durchstoßen konnten?
Wir sehen Tag für Tag, wie die Russen diesen Durchbruch ausweiten. Ihr Ziel ist eine wichtige Versorgungslinie nach Tschassiw Jar. Wenn es den russischen Truppen gelingt, diese abzuschneiden, dann versiegt automatisch die Versorgung der ukrainischen Front dort. Das könnte bedeuten, dass die russische Offensive dort anschließend weiter und schneller vorangeht. Weiterhin beobachten wir den russischen Einsatz von Gleitbomben mit 3000 Kilogramm Sprengstoff.
Was richtet eine solche Menge an Sprengstoff an?
Auf den Bildern ist erkennbar, dass die Bomben nicht sehr präzise ihr Ziel treffen. Sie weichen 15 bis 20 Meter ab. Aber die Wirkung bei 3000 Kilogramm ist dennoch verheerend. Das verursacht einen Krater, in den Sie ein kleines Haus packen können. Trifft eine solche Bombe ein Gebäude mit mehreren Stockwerken, dann bricht das völlig in sich zusammen.
Seit knapp drei Wochen dürfen die Ukrainer US-Raketen auch auf russischem Boden einsetzen. Wie wirkt sich das derzeit aus?
Die Angriffe mit ATACMS und HIMARS haben stetig zugenommen und wir sehen nach meinem Dafürhalten auch erste Erfolge, die sich aber noch nicht messen lassen. Das heißt, die russische Seite ist nach wie vor in der Lage, offensiv anzugreifen. Allerdings legt die Ukraine das Schwergewicht ihrer Raketenangriffe auf S300 und S400, also die russischen Fliegerabwehrsysteme. Ebenso zielen sie auch auf russische Flugplätze.
Ziel ist weiterhin, den Weg für den Einsatz von F16-Kampfjets zu ebnen?
Ja, und mit Blick darauf streitet sich Kiew erneut mit den westlichen Unterstützern über die Frage der Reichweite. Die Ukraine sagt, mit einer Reichweite von 100 Kilometern haben wir jetzt erste Erfolge, aber das ist zu wenig. Wir müssen weiter in die Tiefe gehen können, denn innerhalb dieser 100 Kilometer befinden sich zwar einige Flugplätze und Fliegerabwehrsysteme. Aber dahinter gibt es noch mehr. Darum versucht die Ukraine derzeit, die USA zu überzeugen, dass sie weiter in die Tiefe wirken müssen.
Es gibt Aussagen aus Washington, dass die Reichweite der Raketen nicht beschränkt sei.
Das stimmt, aber wenn das tatsächlich so wäre, dann würden wir das sehen. Wir würden die Effekte sehen, zerstörte Flugplätze und Luftverteidigungssysteme in 300 Kilometern Entfernung. Das sehen wir nicht. Also stehen die USA hier offensichtlich weiterhin auf der Bremse.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de