Warnungen vor Amri kleingeredet? Innenministerium wehrt sich gegen Vorwürfe
15.11.2019, 18:53 Uhr
Warum konnte Anis Amri einen Anschlag begehen, obwohl ein V-Mann vor ihm warnte? Ein Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss gibt Bundeskriminalamt und Innenministerium die Schuld.
(Foto: picture alliance/dpa)
Den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses verschlägt es die Sprache: Ein Polizist aus Düsseldorf schildert, dass Warnungen vor dem Weihnachtsmarkt-Attentäter Amri zehn Monate vor dem Anschlag von höchster Stelle weggebügelt wurden. Das Innenministerium widerspricht heftig.
Das Bundesinnenministerium hat den Vorwurf zurückgewiesen, die Leitungsebene des Bundeskriminalamtes und des Ministeriums hätten Anfang 2016 versucht, einen Informanten aus dem salafistischen Milieu mundtot zu machen. Der vom Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen geführte V-Mann "Murat" hatte vom Herbst 2015 an mehrfach auf die Gefährlichkeit des späteren Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri hingewiesen. Ein Ermittler aus NRW hatte am Donnerstagabend als Zeuge im Untersuchungsausschuss des Bundestages ausgesagt, ein BKA-Beamter habe ihm gesagt, der V-Mann "mache zu viel Arbeit". Diese Einschätzung komme von "ganz oben".
Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Steve Alter, sagte, diese Aussage "wurde weder wörtlich noch sinngemäß durch den Beamten getätigt". Zudem sei auszuschließen, dass der damalige Innenminister Thomas de Maizière oder führende BKA-Mitarbeiter entsprechende Weisungen erteilt hätten. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums widersprach der BKA-Beamte der Darstellung des LKA-Zeugen aus NRW intern vehement.
"Weisung von ganz oben": Mitglieder des Ausschusses sprachlos
Der LKA-Beamte schilderte vor dem Ausschuss, dass ein Beamter des BKA die Glaubwürdigkeit von "Murat" in Zweifel gezogen habe. Warum der Beamte das tat, könne er sich bis heute nicht erklären. Denn dieser V-Mann sei zu diesem Zeitpunkt schon 15 Jahre im Einsatz gewesen. Diese Quelle habe viele Hinweise geliefert, die sich hinterher als richtig erwiesen hätten. Als die Polizei im November 2016 den mutmaßlichen "Statthalter" der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Walaa, festnahm, musste "Murat", der sich Zugang zu dessen Kreis verschafft hatte, abtauchen. Es gab Morddrohungen von Salafisten gegen ihn. Er kam in ein Zeugenschutzprogramm.
Zunächst habe es bei einem Treffen in Karlsruhe eine "hitzige Debatte" in großer Runde gegeben, danach habe er noch unter vier Augen mit dem BKA-Beamten gesprochen, berichtet Kriminalhauptkommissar M., der damals das Ermittlungsverfahren gegen die Abu-Walaa-Gruppe leitete. Dieser habe ihm erklärt, er habe eine Weisung von "ganz oben" bekommen, das Problem mit dem V-Mann aus Nordrhein-Westfalen zu lösen. Denn der "mache zu viel Arbeit". Er habe den BKA-Mann dann gefragt, wer denn mit "ganz oben" gemeint sei. Daraufhin habe ihm der Beamte den Namen von einem seiner Vorgesetzten von ihm beim BKA genannt und "soweit ich weiß, wurde auch der Innenminister bezeichnet".
Er sei sich sicher, dass sein Gesprächspartner das Innenministerium genannt habe, ob auch der Name des damaligen Innenministers de Maizière fiel, konnte der Zeuge jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Zehn Monate nach der fraglichen Besprechung in Karlsruhe kaperte der abgelehnte Asylbewerber Amri am 19. Dezember 2016 in Berlin einen Lastwagen, mit dem er über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz raste. Er tötete zwölf Menschen.
Der Polizist aus Düsseldorf schilderte weiter, er sei von der Aussage des BKA-Beamten damals so "geschockt" gewesen, dass er gleich im Anschluss eine handschriftliche Gesprächsnotiz angefertigt habe. Außerdem habe er kurz darauf zwei Staatsanwälten, die bei dem Gespräch in der großen Runde dabei waren, davon berichtet. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses waren nach der Aussage für wenige Sekunden sprachlos. Später erklärten einige von ihnen, sie wollten den BKA-Beamten demnächst als Zeugen vernehmen.
"Handfester Skandal": De Maizière soll geladen werden
Die Sprecherin der Hinterbliebenen des Anschlages vom Breitscheidplatz, Astrid Passin, forderte eine schnelle Vernehmung de Maizières vor dem Untersuchungsausschuss. "Wir sind zutiefst enttäuscht über die neuesten Nachrichten", sagte sie den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland.
Der Obmann der FDP-Fraktion im Untersuchungsausschuss, Benjamin Strasser, sprach von einem "handfesten Skandal, der hier im Raum steht und den jetzt die Bundesbehörden, das Bundeskriminalamt, aber vor allem das Bundesinnenministerium ausräumen müssen". Eine Vernehmung de Maizières sei "unumgänglich geworden".
Dem schloss sich auch der CSU-Obmann im Amri-Untersuchungsausschuss, Volker Ullrich, an. "De Maizière hat das Recht und auch die Pflicht, das vor dem Untersuchungsausschuss klarzustellen", sagte er im SWR. Beatrix von Storch, AfD-Obfrau im Untersuchungsausschuss, äußerte den Vorwurf, die "obere politische Leitungsebene" habe alles getan, "um Amri möglichst ungestört und frei agieren zu lassen".
Quelle: ntv.de, mau/dpa/AFP