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224 Geiseln in Gaza Israel könnte Hamas einen Deal anbieten

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Einwohner von Kfar Azza demonstrieren für die Rettung der israelischen Geiseln, die von Hamas-Terroristen festgehalten werden.

Einwohner von Kfar Azza demonstrieren für die Rettung der israelischen Geiseln, die von Hamas-Terroristen festgehalten werden.

(Foto: dpa)

Die Haltung "Niemand wird zurückgelassen" gehört zum Ethos Israels. Doch gilt das auch für die mehr als 200 von der Hamas entführten Geiseln? Deren Familien kämpfen um das Leben ihrer Angehörigen. Für die israelische Armee ist das ein Dilemma. Bietet sie der Hamas einen Deal an?

"Ich gehe erst, wenn meine Frau und unsere drei Kinder freigelassen werden," sagt Avichai Brodetz aus dem Kibbuz Kfar Asa, das nach dem Massaker am 7. Oktober einem Schlachtfeld glich und neben dem Gaza-Streifen liegt. "Sie sollten die Menschen freilassen. Auch wenn uns die Terroristen damit etwas sagen wollen, sollte keine Organisation auf der Welt es befürworten, ihnen Schaden zuzufügen."

Nie zuvor gab es in Israel einen Terroranschlag von solchem Ausmaß an Opfern und Brutalität, wo Babys am Türpfosten hingen, Menschen und Tieren der Kopf abgetrennt wurde, oder man auch ganze Familien auslöschte. Es war der größte Massenmord an jüdischen Menschen seit dem Holocaust. Mehr als 200 Menschen wurden als Geiseln nach Gaza entführt. Israel stürzte in einen Schockzustand, in tiefe Trauer. Verzweifelte Angehörige versammelten sich vor dem Militärhauptquartier in Tel Aviv zu spontanen Demonstrationen.

Als einer der ersten machte sich der 44-jährige Landwirt kurz nach den brutalen Hamas-Morden mit einem Blatt Papier - das mit "Meine Familie ist in Gaza" beschriftet ist - und einem Plastikstuhl auf nach Tel Aviv, um dort in der Kaplanstraße zu demonstrieren. Die Allee ist seit Jahresbeginn als Schauplatz von Massenprotesten gegen den Umbau der Justiz bekannt. Mittlerweile versammeln sich dort täglich Tausende von Menschen, die auch Premierminister Benjamin Netanjahu auffordern, den Posten zu räumen. Unweit des Militärhauptquartiers wurde auch eine Schabbat-Banketttafel für alle festgehaltenen Menschen aufgestellt.

"Ich bin erstaunt über die Unterstützung, die ich erhalte, erzählt Brodetz. "Eine solche Einigkeit und Unterstützung unter den Israelis zu sehen, hätte ich nicht gedacht. Diese Liebe steht im Widerspruch zu Teilen der Regierung."

Hamas fordert Freilassung aller inhaftierten Palästinenser

Bis jetzt ließ die Hamas vier Geiseln frei. Nach israelischen Angaben haben die Terroristen noch 224 Menschen in ihrer Gewalt. Über weitere Verhandlungen mit den Islamisten ist kaum etwas bekannt. Während das Rote Kreuz auf höchster Ebene mit ihnen über Zugang zu den Entführten diskutiere und selbst Katar - einer der Unterstützer der Islamisten - über die Freilassung der Frauen und Kinder sprach, fordern diese im Austausch dafür alle in Israel inhaftierten Palästinenser.

"So ein Deal ist ein schwerwiegendes politisches Thema", erklärt Hagai Hadas, ehemaliger Offizier beim israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad. "Die Tatsache, dass auch zahlreiche Menschen anderer Nationalitäten zu den Geiseln zählen, ermöglicht es der Hamas, Forderungen auch an diese Länder zu stellen. Doch in der gegenwärtigen Situation, in der sich in Israel viel Zorn gegen die Terroristen richtet, wird das kaum möglich sein."

Hadas war früher als Unterhändler bei der Freilassung von Soldaten in Gaza und im Libanon tätig. Er erklärt, dass die Verschleppten für Terrororganisationen als Faustpfand dienen. Selbst vermittelte er 1985 die Befreiung dreier Israelis und 2011 des Soldaten Gilad Schalit - nach fünf Jahren in den Händen der Hamas - jeweils im Austausch von mehr als tausend palästinensischen Gefangenen.

Ein Deal, um eigenes Leben zu retten?

"Der Preis wird dieses Mal mit anderen Mitteln bezahlt", glaubt der Geheimdienstexperte. "Selbst in einem umfassenden Krieg in Gaza wird Israel auf eine Einigung zur Freilassung der Geiseln drängen und bis zur letzten Sekunde versuchen, eine Lösung zu finden." Er betont, dass Jerusalem neben einer Befreiungsaktion weitere Optionen zur Verfügung stehen. Neben Geld könnten sie den Hamas-Führern auch anbieten: Geiseln im Austausch für ihre Flucht aus Gaza. "Letzteres ist schwer vorstellbar", sagt Hadas. "Doch um ihr eigenes Leben zu retten, lassen sich Terroristen auch auf solche Deals ein. Israel wird alle Anstrengungen unternehmen, um die Entführten zu lokalisieren und sie mit militärischen Mitteln zu retten."

Diese Herausforderung ist aber größer als in der Vergangenheit. Die über 200 Geiseln sind an mehreren Orten in Gaza verteilt und manche werden womöglich in den Hamas-Tunneln festgehalten. Da nach israelischem Ethos aber niemand hinter feindlichen Linien zurückgelassen werden darf, gibt es zahlreiche Einheiten der israelischen Streitkräfte (IDF), die darauf spezialisiert sind. "So eine Operation wäre ein Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben", erklärt Leutnant D. der Maglan Einheit, die auf Einsätze hinter feindlichen Linien spezialisiert ist. "Es ist ein Risiko im Kontext der Entführten und der verborgenen Infrastruktur in Gaza. Eine Befreiungsaktion während eines Krieges erfordert ein hohes Maß an Aufklärung."

Jeder in den IDF weiß um seine Verpflichtung, die Geiseln unversehrt nach Hause zu bringen. Das beispiellose Ausmaß der Herausforderung, vor der Israel aber gerade steht, führt zu einer Realität, in der seine Sicherheitsexperten verstehen, dass Verluste unter den in Gaza Inhaftierten fast unvermeidlich sind. "Die Geometrie des Problems ist sehr kompliziert", sagt Leutnant D. "Unsere besten Geheimdienstoffiziere werden jetzt gebraucht. Sollten wir die Mehrheit der Geiseln befreien, ist es schon ein großer Erfolg."

Währenddessen fordern rechtsextreme Siedler bei einer Kundgebung in Tel Aviv, im Zweifel die Rücksicht auf das Leben der Geiseln zugunsten der Zerstörung der Hamas zurückzustellen. Dies erzürnt viele Protestler in der Kaplanstraße. Zwar möchten sie auch die Entmachtung der Terroristen, glauben aber, dass eine Bodenoffensive das Leben ihrer Angehörigen gefährden könnte.

"Ich möchte, dass alle Gefangenen zurückkehren", sagt Avichai Brodetz, dessen Frau und drei Kinder nach Gaza entführt wurden. "Ich habe in der Armee gedient und liebe mein Land, bin aber kein Politiker. Israel muss alles für ihre Befreiung tun." Zusammen mit weiteren Demonstranten hält er sein Protestblatt hoch. Er ist überzeugt, dass kein Krieg den Nahostkonflikt lösen wird. "Die Hamas schadet auch den Palästinensern", glaubt Brodetz. "Nur ohne die Islamisten wird Gaza frei sein. Sie haben nicht nur den Juden den Krieg erklärt, sondern auch ihrem eigenen Volk."

Quelle: ntv.de

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