Kann Deutschland Krieg? "Auslandseinsätze sind kein Kindergeburtstag"
05.04.2023, 11:07 Uhr (aktualisiert) Artikel anhören
Bei "Hart aber fair" geht es unter anderem um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands.
(Foto: IMAGO/Klaus W. Schmidt)
Der russische Angriff ereilte die Ukraine nicht unvorbereitet. Seit der Annexion der Krim hatte das Land seine Armee modernisiert und aufgerüstet. Und Deutschland? Wäre das Land in der Lage, einen Krieg zu führen, wenn es müsste? Die Gäste bei "Hart aber fair" kommen zu einer ernüchternden Antwort.
Was würde passieren, wenn Russland die NATO angriffe? Könnte sich Deutschland im Ernstfall selbst verteidigen? Die Bundeswehr als Verteidigungsarmee macht im Moment nicht den Eindruck. Zu groß sind die Lücken, die nach Jahren der trügerischen Sicherheit in der Armee entstanden sind. Sie zu stopfen, könnte nach Meinung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bis 2030 dauern.
"Das wird noch dauern, bis wir uns verteidigen können", sagt auch Michael Roth. Der SPD-Politiker ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Er ist einer der Gäste in der ARD-Sendung "Hart aber fair", in der am Montagabend die Frage "Muss Deutschland Krieg können"?" gewälzt wird. Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland habe Deutschland den Fehler gemacht, weiterhin auf Dialoge zu setzen. "Jetzt zahlen wir dafür einen hohen Preis", stellt Roth fest. "Aber ich habe den Eindruck, dass nicht nur Politik, sondern auch Bürgerinnen und Bürger verstanden haben, dass uns unsere Demokratie etwas wert sein muss."
Wichtig sei nun, dass die Ukraine "diesen furchtbaren Angriffskrieg gewinnt". Denn wenn der russische Präsident Wladimir Putin diesen Krieg gewinnen sollte, drohten weitere Kriege, die Deutschland noch mehr Geld kosten würden. Die Bundesrepublik müsse sich jetzt darauf konzentrieren, die Länder mit einer Grenze zu Russland zu unterstützen. Gleichzeitig müssten die Waffen ersetzt werden, die Deutschland an die Ukraine abgegeben habe. "Da ist die Politik und die Industrie gefordert. Allein die komplizierten Beschaffungsverfahren dauern viel zu lange. Da müssen wir schneller werden", so Roth.
Der Sozialdemokrat beklagt die seiner Meinung nach zu geringe Akzeptanz der Soldaten in der Gesellschaft. "Für mich sind Soldaten Bürger in Uniform, Teile der Gesellschaft, und nicht irgendwelche Leute, die auf dem Mars irgendwas erledigen."
"Ein wenig Respekt würde reichen"
Einer von ihnen ist Rüdiger Hesse. Er war im Kosovo und in Afghanistan im Einsatz. Vergangenes Jahr hat er die Bundeswehr als Oberstabsfeldwebel verlassen. Die Bilder, die er aus der Ukraine sieht, erinnern ihn an seinen Einsatz im afghanischen Kundus, erzählt er bei "Hart aber fair".
Die Bundeswehr könne zwar Krieg führen, dafür seien die Soldaten ausgebildet. Doch es fehle an Material. Hesse: "Auch da üben wir ungewollt für den Krieg. Wir lernen zu improvisieren, Dinge zum Laufen zu bringen, ohne die Möglichkeiten, Ersatzteile rechtzeitig, pünktlich oder gar vorausschauend zu bekommen." In der Politik nenne man das "dynamisches Verfügbarkeitsregiment". Hesse erklärt den Begriff: "Wir haben nichts, aber es kommt vielleicht was. Haltet durch, alles wird gut." Das mache den Soldaten Sorgen, wenn sie im Ausland kämpfen, erklärt Hesse: "Es geht da um Leben und Tod. Besonders dann, wenn etwas nicht funktioniert und nicht repariert werden kann, weil die Ersatzteile noch hergestellt werden müssen. Wir gehen da nicht auf einen Kindergeburtstag."
Nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigten Zeitenwende könne sich etwas ändern, hofft Hesse. Doch sicher ist er sich noch nicht darüber, ob die Versprechen aus der Politik nicht doch nur hohle Phrasen seien.
Doch Hesse nimmt auch wahr, dass sich die Wahrnehmung von Soldaten durch die Gesellschaft seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs verändert hat. Er bekräftigt: "Uns geht es um Anerkennung. Ein bisschen Respekt für die Arbeit, die wir für diese Gesellschaft leisten, für die wir unsere Haut zu Markte tragen, würde uns schon reichen."
"Überlege es dir gut"
Seine Erfahrungen, vor allem die Nächte, in denen seine Leute und er mit Raketen beschossen worden sind, haben bei Hesse zu einer posttraumatischen Belastungsstörung geführt. Er leide an Angstattacken, Schlafstörungen und Depressionen, erzählt er. Er habe den Kontakt zu vielen Freunden abgebrochen, und er habe Spasmen entwickelt. Früher sprach man von "Kriegszittern".
Jungen Menschen, die sich überlegen, ob sie zur Bundeswehr gehen sollten, rät er dennoch: "Überlege es dir gut. Und wenn du dir klar bist, dass du bis zur letzten Konsequenz dein eigenes Leben für dich, deine Kameraden und die Gesellschaft einsetzen willst, dann ist das ein geiler Arbeitgeber. Der eröffnet dir Möglichkeiten, die dir in der zivilen Welt niemand bieten kann. Ich würde es wieder tun."
Dass Deutschland Kriege führen kann, weiß auch der Friedensaktivist Franz Alt. Das habe die Welt im vergangenen Jahrhundert zweimal auf furchtbare Weise erleben müssen. Alt fühlt sich bei der Frage "Kann Deutschland Krieg" unwohl, sagt er. "Mir ist nicht wichtig, ob Deutschland Krieg kann. Mir ist wichtig, dass Deutschland Frieden kann."
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 04. April 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de