
Die Spitzen der Ampelparteien - Robert Habeck, Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Christian Lindner. Das Karlsruher Urteil gibt ihnen weiten Handlungsspielraum im Kampf gegen die Pandemie.
(Foto: imago images/Chris Emil Janßen)
Eine Begründung für Zögern und Zaudern in der Pandemiepolitik fällt heute weg: Das Bundesverfassungsgericht hat die Maßnahmen der Bundesnotbremse gebilligt, damit ist der Weg auch frei für drastische Einschränkungen in der vierten Welle.
Es ist ein umfassendes "Go!" für drastische Maßnahmen, das das Bundesverfassungsgericht heute veröffentlicht hat. Die höchsten Richterinnen und Richter in Karlsruhe billigen in ihrem Urteil die Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen, die das Leben in Deutschland als "Bundesnotbremse" im vergangenen Frühjahr weitgehend einschränkten, um die damals dritte Pandemie-Welle zu bremsen.
Das Urteil hat aber nicht nur in der Rückschau Bedeutung, sondern ist sogar als höchstrichterliche Aufforderung zu verstehen, im Ringen mit der laufenden vierten Corona-Welle beherzt zu handeln. "So wie das Urteil angelegt ist, kann man praktisch für alles, was an Einschränkungen auch für diesen Winter diskutiert wird, sagen: Auch diese Beschränkungen wären schwere Grundrechtseingriffe, aber verfassungskonform, denn die Gefahr ist ja nicht geringer geworden seit dem Frühjahr", sagt der Verfassungsrechtler Joachim Wieland im Gespräch mit ntv.de.
Die Politik greift auf der einen Seite in Grundrechte ein, aber hat auf der anderen Seite laut Wieland auch Schutzpflichten für die Bevölkerung insgesamt und für das Gesundheitssystem, auch das werde in dem Urteil explizit gesagt. Es deutet aus Sicht des Experten darauf hin, "dass die Schutzpflichten gegenwärtig überwiegen. Das ist aus rechtlicher Sicht ein Hinweis darauf, dass die Politik zum Handeln verpflichtet ist."
Viel Handlungsspielraum für die Politik
Aus Sicht des Verfassungsexperten müsste die Bundesregierung auch nicht fürchten, mit einem generellen Lockdown, der zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht unterscheiden würde, gegen das Grundgesetz zu verstoßen. "Das Gericht hat dieses Urteil ja vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion beschlossen. Wenn es Bedenken hätte gegenüber einheitlichen Maßnahmen, hätte es im Vorhinein schon einen Hinweis geben können, etwa dass man in Zukunft werde unterscheiden müssen zwischen Maßnahmen für Geimpfte und für Ungeimpfte." Ein solcher Hinweis fehlt jedoch, das bestärkt Wieland in der Interpretation, dass das Gericht auch in diesem Punkt dem Gesetzgeber Handlungsspielraum gibt.
Das Karlsruher Urteil besagt demnach, der Gesetzgeber müsse sich vor einer Entscheidung über Grundrechtseinschränkungen kundig machen, also "die verschiedenen wissenschaftlichen Meinungen in Betracht ziehen, aber dann hat er einen Einschätzungsspielraum, wie groß er die Gefahren sieht und welche Maßnahmen er für sinnvoll hält".
In dieser Pandemiesituation habe die Politik einen weiten Handlungsspielraum, "und das Bundesverfassungsgericht wird nicht leichtfertig eingreifen, das kann man aus diesem Beschluss deutlich ablesen".
Das Gericht wird gemäß Wielands Erwartung nur dann eingreifen, wenn der Gesetzgeber die betroffenen Grundrechte verkennen sollte. "Aber wenn die Politik so handelt, wie sie bisher gehandelt hat, dann braucht sie das Verfassungsgericht nicht zu fürchten."
Damit fällt für die Politik - noch amtierend oder zukünftig in der Regierung – eine Begründung für den Verzicht auf drastische Maßnahmen wie etwa einen generellen Lockdown weg: Der Hinweis darauf, dass solch drastisches Vorgehen womöglich nicht verfassungsgemäß sei. So hatte bisher insbesondere die FDP als Teil der kommenden Ampelregierung argumentiert. Die Karlsruher Richter haben Regierung und Gesetzgebern die Tür weit aufgemacht. Ab heute stehen sie unter dem Druck, wenn die Lage es erfordert, auch den Schritt hindurch zu machen.
Quelle: ntv.de