
Die mächtige Peterskirche begrüßt Besucher, die von der polnischen Seite anreisen.
(Foto: Julian Vetten)
Mit Mühe und Not verhinderte ein überparteiliches Bündnis im Juni die Wahl des ersten AfD-Bürgermeisters. Nicht mal drei Monate später hat die Stadt wieder einen der spannendsten Wahlkreise. Ministerpräsident Kretschmer tritt gegen die AfD an. Er hat dort schon einmal verloren.
Es tröpfelt noch leicht, als der Stadtführer mit seiner Reisegruppe aus dem Säulengang tritt, unter dem die kleine Schar Schutz gesucht hatte. Ein kurzes, aber heftiges Gewitter hatte zuvor die Hitze des Tages vertrieben - jetzt, wo sich die Abendsonne langsam durch die Wolken schiebt und den Görlitzer Untermarkt in warmes Licht taucht, glitzert das makellose Kopfsteinpflaster, als hätte es jemand frisch poliert. Prachtvoll sieht das aus in Kombination mit den bunt gestrichenen Altstadthäusern, den vielen verschnörkelten Kirchtürmen, den Geranien vor den Fenstern. Görlitz ist eine steingewordene Reise in die Vergangenheit, unfassbare 4000 denkmalgeschützte Häuser aus sieben Jahrhunderten stehen zwischen Peterskirche und Kaisertrutz. Die Touristen staunen an der vorgesehenen Stelle, als der Stadtführer ihnen die Zahl nennt.
Am 1. September wählen Sachsen und Brandenburger einen neuen Landtag, am 27. Oktober ziehen die Thüringer nach. In den Wochen vor den Wahlen reisen wir einmal kreuz und quer durch die Bundesländer, um herauszufinden, was die Menschen von Lehesten bis Templin wirklich umtreibt.
Was der Stadtführer nicht erzählt: Die Lebenswirklichkeit vieler Görlitzer kann mit den schicken Fassaden nicht mithalten. Im Zukunftsatlas 2019 belegt die Stadt gerade mal Platz 379 von allen 402 Landkreisen und kreisfreien Städten. Die Arbeitslosenquote ist mit 7,5 Prozent zwar nicht dramatisch hoch, liegt aber gut fühlbar ein Drittel über der des Landes. Der Durchschnittslohn dagegen liegt im Landkreis mit 2272 Euro gute 1000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt und immerhin noch 300 Euro unter dem sächsischen. In Deutschland verdient niemand weniger als die Görlitzer, auch wenn eine Lohnsteigerung um satte 9,1 Prozent im vergangenen Jahr zeigt, dass gerade viel passiert.

Zu schön, um wahr zu sein? Die Görlitzer Altstadt ist der feuchte Traum jedes Mittelalterromantikers.
(Foto: Julian Vetten)
Trotzdem, dagegen stehen die weit mehr als 360 Millionen Euro aus Privat-, Landes-, Bundes- und EU-Mitteln, die seit der Wende in die Sanierung der Görlitzer Altstadt geflossen sind. Eine gewaltige Summe, von der die Einheimischen nur bedingt etwas haben, gefühlt wenig bis gar nichts: Die schicken Restaurants und Geschäfte in der mittelalterlichen Märchenkulisse sind auf kaufkräftige Touristen ausgerichtet - um in der Görlitzer Altstadt auf Görlitzer zu treffen, muss man schon richtig Glück haben. Vielleicht ist es gerade dieser scharfe Kontrast, der den Menschen in der 56.000-Einwohner-Stadt noch saurer aufstößt als dem Rest der Sachsen, sicher ist jedenfalls: Die AfD ist hier noch stärker als in den meisten anderen Landesteilen, erst im Juni konnte ein überparteiliches Bündnis mit letzter Not den ersten AfD-Oberbürgermeister in der Geschichte der Bundesrepublik verhindern.
Muss Ministerpräsident Kretschmer gehen?
Zweieinhalb Monate später sitzt der damalige Kandidat Sebastian Wippel leger in Cargoshorts und blauem T-Shirt auf einer Bank am zentralen Wilhelmsplatz und unterhält sich mit zwei Frauen mittleren Alters. Der Polizeikommissar strahlt Gelassenheit aus - nur ein Pavillon in AfD-Farben ein paar Meter weiter verrät, dass der Wahlkampfendspurt für die Landtagswahl am 1. September in vollem Gange ist. Wippel bewirbt sich um ein Direktmandat für den Wahlkreis "Görlitz 2", in dem auch CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer antritt.
Das Duell der beiden Kontrahenten ist gleich aus mehreren Gründen spannend: Wippel und Kretschmer gelten beide als bürgernah und sind bei den Görlitzern beliebt. Kretschmer ist momentan zwar Sachsens beliebtester Politiker, verlor aber bei der Bundestagswahl 2017 sein Direktmandat an den damaligen AfD-Kandidaten.
Am AfD-Stand gilt Wippels Sieg als ausgemacht: Die beiden Frauen an der Seite des Polizeikommissars freuen sich darauf, wenn Wippel in ihrer Stadt "endlich aufräumt" und sie "die Schwarzen und Kopftuchträger nicht mehr durchfüttern müssen". Korrupte Politiker, manipulierte und manipulierende Medien, Gerüchte über schockierende Gewaltverbrechen von Geflüchteten, die in keiner Polizeistatistik auftauchen: Die beiden Verwaltungsbeamtinnen, die so gesetzt aussehen und so radikal reden, haben alle wichtigen AfD-Klassiker im Repertoire. Währenddessen guckt Wippel gequält: Der Polizist mag es gar nicht, in die rohen verbalen Abgründe abzurutschen, die in Teilen seiner Partei so populär sind. Wippel lässt die Frauen trotzdem gewähren, nickt von Zeit zu Zeit und versucht es am Ende mit einer Replik, die alles und nichts bedeuten kann: "Wir dürfen kein Verhalten dulden, das vom sozialen Rahmen abweicht".
Er wirkt erleichtert, als das Thema endlich durch ist und die Sprache auf den Tourismus kommt. Hier kann Wippel punkten, im vergangenen Jahr kletterte die Zahl der Übernachtungen in Sachsen auf Rekordniveau und überstieg erstmals die 20-Millionen-Marke. "Dass die Touristen ausbleiben, hat man damals bei Pegida auch gesagt. War aber Quatsch", sagt der Polizist und winkt ab. Tatsächlich scheinen sich die wenigsten Besucher an der starken AfD-Präsenz im Land zu stören: Auch die Sächsische Schweiz boomt weiterhin, obwohl dort fast jeder Zweite keine der etablierten Alt-Parteien wählt.
Eine Koalition mit der CDU?

Für die politischen Verhältnisse in der Stadt interessieren sich die wenigsten Besucher.
(Foto: Julian Vetten)
Zurück in der Altstadt ist es an der Zeit für eine Stichprobe: "Politik? Da halten wir uns raus. Ist doch auch viel zu schön hier, um sich damit die Laune zu verderben", findet ein älteres Ehepaar aus Bayern. Sie sind mit ihrer Meinung nicht alleine, nur ein junges niedersächsisches Paar mit Kleinkind sagt halb im Spaß: "Das ist vielleicht die letzte Chance für uns, noch mal nach Sachsen zu fahren, bevor die AfD hier alles übernimmt." So weit dürfte es nicht kommen, schließlich will (noch) niemand mit der AfD koalieren. In der zweiten Reihe der sächsischen CDU gibt es einige, die sich eine Zusammenarbeit mit der AfD zumindest vorstellen könnten. Kretschmer hat erst jüngst ausgeschlossen, dass es CDU-Landtagsmitglieder gibt, die mit der AfD koalieren würden.
Noch aber ist es nicht so weit - und wenn die CDU, die in den letzten Tagen um satte vier Prozentpunkte zugelegt hat und mittlerweile wieder bei vergleichsweise komfortablen 30 Prozent (AfD: 24 Prozent) steht, ihr Momentum beibehält, bleiben solche Überlegungen vorerst auch reine Gedankenspiele. Was Sebastian Wippel nicht davon abhält, sie zu spielen: "Irgendwann kommen wir noch zusammen. Wenn nicht mit dieser Regierung, dann eben mit der nächsten."
Quelle: ntv.de