Überraschungs-Coup oder Fiasko? Offensive der Ukraine in Kursk stößt auf große Bedenken
08.08.2024, 11:12 Uhr Artikel anhören
Die ukrainischen Streitkräfte haben nach längerer Zeit mal wieder so etwas wie ein Momentum auf ihrer Seite.
(Foto: IMAGO/SNA)
Viele Experten sehen große Risiken in der ukrainischen Offensive auf russischem Territorium in der Region Kursk. Gleichzeitig stehen aber auch mögliche positive Effekte im Fokus. In der ukrainischen Regierung wird das Thema derweil weiter totgeschwiegen.
Auch zwei Tage nach dem Beginn der ukrainischen Offensive auf russischem Territorium in der Region Kursk gibt es aus Kiew keine offiziellen Informationen zu dem Vorstoß. Präsident Selenskyj ignorierte das Thema in seiner allabendlichen Ansprache genau wie der Rest seines Regierungsapparates in jüngster Zeit. Auch vom Generalstab der Armee gab es im täglichen Update keine Stellungnahme. Ein Vorgehen, das nicht ungewöhnlich ist, um der russischen Seite keine Hilfestellung zu geben. Experten weltweit versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen, finden allerdings auch keine klare Antwort auf die Frage, was Kiew mit der Offensive wirklich bezwecken will.
Ein Vorstoß auf russisches Gebiet ist ungewöhnlich und mit hohen Risiken verbunden. Einig sind sich die meisten Beobachter darin, dass der Ukraine eine Überraschung gelungen ist. Und das nicht zum ersten Mal.
Der frühere australische General Mick Ryan schreibt auf X, die Überraschung sei eine wichtige Kontinuität in der Kriegsführung. "Ziel ist es, den Gegner zu schockieren und zu überwältigen, wenn er am schwächsten ist oder es am wenigsten erwartet. Dieser Schock und der damit einhergehende Zusammenbruch des gegnerischen Zusammenhalts und der Fähigkeit, wirksam zu reagieren, kann dann genutzt werden, um Boden zu erobern und gegnerische Verbände zu zerstören." Laut Ryan habe die Ukraine mit ihrer jüngsten Operation nicht nur Russland überrascht, sondern auch Beobachter im Westen.
Ex-Militär Nico Lange von der Münchener Sicherheitskonferenz teilt auf X mit, aufgrund des Überraschungsmoments und schwacher russischer Kräfte vor Ort habe die Ukraine sehr schnell beachtliche Fortschritte erreicht. "Fraglich scheint jedoch, ob die Ukraine Ortschaften und Gebiet halten kann, wenn erwartbar bald die russische Luftwaffe dort eingesetzt wird."
Schlägt Russland zurück?
Ein Szenario für das möglicherweise vorgesorgt wurde. Die Ukrainer hätten "anscheinend in erheblichem Umfang Luftabwehrsysteme eingesetzt", schreibt Ryan. Mindestens ein russisches Kampfflugzeug und zwei Hubschrauber sollen abgeschossen worden sein. "Bisher gibt es nur wenige Berichte darüber, dass Russland in der Lage war, Gleitbomben oder sogar eine große Anzahl von Drohnen einzusetzen, um dem ukrainischen Angriff zu begegnen." Auf dem prorussischen Militärblogger-Kanal "Zergulio" heißt es, Kiews Truppen hätten erfolgreich Mittel der elektronischen Kriegsführung genutzt, um die russische Kommunikation zu stören.
Laut Lange kann die Ukraine mit ihrem Vorgehen möglicherweise eine Verhandlungsposition aufbauen und für Entlastung an anderen Frontabschnitten sorgen, wenn russische Kräfte verlegt werden müssen. Auch viele andere Beobachter verweisen auf dieses Kalkül. "Wahrscheinlich nur ein Schachzug, um russische Ressourcen umzuleiten", schreibt der Militärökonom Marcus Keupp mit Blick auf die Operation.
Kiews Truppen könnten mit dem Vorstoß zudem auch einem Angriff russischer Kräfte auf die ukrainische Region Sumy - über den lange Zeit spekuliert wurde - zuvorgekommen sein. "Dafür setzt die Ukraine bisher aber zu geringe Kräfte im Gebiet Kursk ein", heißt es von Nico Lange. Der Sicherheitsexperte sieht "erhebliche innenpolitische und außenpolitische Risiken der ukrainischen Offensive" bei gleichzeitig schwieriger Lage im Donbass aufgrund des schnelleren russischen Vordringens und schwach besetzter Einheiten dort.
Wie lange geht die Offensive?
Eine der Fragen, die sich weiterhin stellt, ist, ob die ukrainischen Truppen sich in Kursk festsetzen können und wollen - oder ob sie sich bald wieder zurückziehen. Michael Kofman vom US-Thinktank CNA schreibt auf X: "Vieles hängt davon ab, was die Ukraine an Reserven für die Operation zur Verfügung hat und wie schnell sich Russland organisiert, um zu kontern." Die ersten Tage einer Offensive seien in der Regel die dynamischsten, so Kofman.
Die ukrainischen Analysten von Frontline Intelligence zweifelten in einer Einschätzung in drastischen Worten an der geistigen Verfassung der Kursk-Verantwortlichen, da die Lage in der Ukraine in Richtung Pokrowsk durch den enormen russischen Druck kritisch sei. Pokrowsk wurde zuletzt von Selenskyj als Schwerpunkt der russischen Offensivbemühungen bezeichnet.
In manchen Spekulationen in sozialen Netzwerken heißt es, Kiews Truppen würden in Kursk lediglich die russischen Grenztruppen schwächen und die Gasversorgung stören wollen. Andere Überlegungen gehen gar so weit, dass das dortige Atomkraftwerk das Ziel sei, um es später gegen das von den Russen besetzte AKW Saporischschja "einzutauschen". Hinweise, dass an alldem etwas dran ist, gibt es keine.
Auch wenn sich viele Experten und Beobachter insgesamt kritisch angesichts eines langfristigeren Erfolgs der Offensive in Kursk zeigen, bleibt festzuhalten, dass die Ukraine in der Vergangenheit selten kopflos im Abwehrkampf gegen die russische Aggression agiert hat. In Kiew weiß man um die eigenen begrenzten Möglichkeiten und Mittel und wie diese einzusetzen sind.
Ein großangelegtes Scheitern mit hohen Verlusten können sich die Streitkräfte angesichts der angespannten Personalsituation nicht leisten. Möglicherweise würde dies auch den Verantwortlichen in Kiew auf die Füße fallen. Ob und inwiefern sich die Kursk-Offensive letztlich auf das Kriegsgeschehen auswirkt, werden erst die nächsten Tage zeigen können.
Quelle: ntv.de