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Kursker fliehen in Scharen Putin beklagt plötzlich "wahllosen Beschuss ziviler Ziele"

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Im überfallenen Nachbarland dürfte sich das Mitleid in Grenzen halten: Putin verurteilt den Beschuss von Wohnhäusern durch Raketen.

Im überfallenen Nachbarland dürfte sich das Mitleid in Grenzen halten: Putin verurteilt den Beschuss von Wohnhäusern durch Raketen.

(Foto: via REUTERS)

Noch ist vieles unklar: Wie heftig sind die ukrainischen Angriffe gegen Russen? In der Grenzregion Kursk herrscht wohl Panik, Tausende Russen fliehen und der Gouverneur ruft zu Blutspenden auf. Kremlchef Putin empört sich über eine schwere Provokation durch das "Kiewer Regime".

Nach schweren ukrainischen Angriffen auf die russische Grenzregion Kursk hat Kremlchef Wladimir Putin dem "Kiewer Regime" eine schwere neue Provokation und einen "wahllosen Beschuss ziviler Ziele" vorgeworfen. Es sei mit Raketen auch auf zivile Objekte und Wohnhäuser geschossen worden, sagte Putin bei einer vom Kreml bei Telegram in Teilen übertragenen Regierungssitzung. Bei einem Treffen mit dem Verteidigungsministerium, mit dem Generalstab der russischen Streitkräfte und dem für den Grenzschutz zuständigen Inlandsgeheimdienst FSB werde er sich in Kürze weitere Lageberichte anhören, sagte der Präsident.

Nach Angaben des Generalstabs sind an dem Angriff "bis zu 1000" ukrainische Streitkräfte beteiligt. Inzwischen seien mindestens 100 von ihnen getötet und 215 verletzt worden, sagte der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow bei dem Treffen mit Putin. "Das tiefe Vorrücken des Feindes auf das Gebiet wurde durch Schläge der Luftwaffe und der Artillerie gestoppt", sagte Gerassimow weiter.

Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte zuvor Berichte zu anhaltenden Kämpfen in der Region Kursk bestätigt. "Die Operation zur Vernichtung der Gruppierungen der Streitkräfte der Ukraine wird fortgesetzt", teilte das Ministerium in Moskau mit. Demnach gab es Gefechte in grenznahen Ortschaften auf russischem Gebiet gegen ukrainische Eindringlinge. Noch am Vortag hatte das Verteidigungsministerium behauptet, dass ein Versuch, die Grenze zu durchbrechen, gescheitert sei.

Nun hieß es, dass ein tiefes Eindringen auf russischem Staatsgebiet verhindert worden sei. Laut dem Ministerium stießen bereits am Dienstag etwa 300 ukrainische Soldaten unterstützt von elf Panzern und mehr als 20 gepanzerten Fahrzeugen über die Grenze vor. Sie seien aber nicht weit gekommen und hätten schwere Verluste erlitten. Armee und Grenzschutz seien noch dabei, die Eindringlinge zu vernichten. Überprüfen lassen sich diese Angaben derzeit nicht. Ukrainische Regierungsvertreter verweigerten einen Kommentar.

Tausende Menschen auf der Flucht

An den Kampfhandlungen in der Grenzregion sollen Moskau zufolge Soldaten und FSB-Kräfte beteiligt sein. Das Ermittlungskomitee in Moskau leitete ein Strafverfahren ein wegen eines, wie es offiziell hieß, Terroranschlags gegen russisches Staatsgebiet.

Laut Behörden flohen bisher schon Tausende Menschen aus den Grenzortschaften im Gebiet Kursk. Die Bürger hätten ihre Wohnungen in Privatfahrzeugen verlassen, sagte der geschäftsführende Gouverneur Alexej Smirnow in einer Videobotschaft. Zudem seien 200 Menschen in Transportfahrzeugen und Bussen aus den beschossenen Ortschaften in Sicherheit gebracht worden. Smirnow rief die Einwohner zu Blutspenden auf. Die Region verteidige sich heldenhaft, schrieb er auf Telegram, Notfalldienste seien in Alarmbereitschaft, die Blutbanken stockten ihre Bestände auf. Russische Behörden sprachen von Dutzenden Verletzten, nach offiziellen Angaben gab es auch mindestens drei Tote.

Smirnow sagte, er habe noch in der Nacht mit Kremlchef Putin telefoniert. Der Präsident habe die Situation unter persönliche Kontrolle genommen. Es seien auch Notunterkünfte mit rund 2500 Plätzen eingerichtet worden. Dort seien auch Psychologen im Einsatz.

Auch auf ukrainischer Seite wurde die Evakuierung von 6000 Menschen aus dem Grenzgebiet zu Kursk angeordnet. "Ich habe gerade den Befehl zur Zwangsevakuierung von 23 Siedlungen in fünf Gemeinden in der Region Sumy unterzeichnet", teilte Regionalgouverneur Wolodymyr Artjuch mit.

US-Thinktank ist skeptisch

Die Lage vor Ort bleibt unübersichtlich. Russische Militärblogger, die sich als Kenner der Kriegslage erwiesen haben, teilten ebenfalls mit, ukrainische Soldaten seien in der Region Kursk. Der Telegram-Kanal Rybar des pensionierten Presseoffiziers Michail Swintschuk schrieb, ukrainische Truppen hätten drei Siedlungen in der Region eingenommen und kämpften sich weiter vor. Der kremlnahe Militärblog Zwei Majore schrieb, ukrainische Soldaten seien bis zu 15 Kilometer in die Region vorgedrungen. Auch diese Angaben waren nicht zu überprüfen.

Das in Washington beheimatete Institute for the Study of War bezweifelte die Echtheit von Aufnahmen, mit denen russische Militärblogger die Angriffe belegen wollen. Die meisten der gezeigten Schäden "scheinen das Ergebnis eines routinemäßigen ukrainischen Beschusses zu sein und deuten nicht auf Bodenaktivitäten in dem Gebiet hin", schrieb das ISW. Es könne nicht bestätigen, dass die auf Bildern gezeigten beschädigten und verlassenen Fahrzeuge aus der Ukraine stammten.

Falls die Berichte über einen Vorstoß nach Russland zutreffen, versucht die Ukraine womöglich, russische Reserveverbände in das Gebiet zu locken und so die russischen Angriffe in der ostukrainischen Region Donezk zu schwächen. Allerdings könnten wegen einer solchen Aktion die ohnehin unterlegenen ukrainischen Truppen an der mehr als 1000 Kilometer langen Front weiter ausgedünnt werden.

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Bereits im vergangenen Jahr waren Verbände undurchsichtiger Herkunft nach Russland vorgestoßen. Nach ukrainischen Angaben handelte es sich um die ausschließlich aus Russen zusammengesetzten Gruppen "Russisches Freiwilligenkorps" und "Legion Freiheit Russlands". Diese wurden zwar schließlich zurückgeschlagen, richteten jedoch Schäden an und brachten die russischen Behörden in Verlegenheit.

Die Ukraine hat in ihrem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg immer wieder auch Ziele im benachbarten Land angegriffen. Die Attacken dienten nach Angaben aus Kiew in der Regel der Störung des militärischen Nachschubs aus Russland.

Quelle: ntv.de, ghö/fzö/dpa/AP/AFP

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