Politik

Gesetz soll Lücken schließen "Lieferengpässe bei Arzneimitteln haben in der Tat zugenommen"

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Mit einer anderen Beschaffung und Bevorratung als heute wären Lieferengpässe weitgehend vermeidbar, sagt Experte Wolfgang Greiner.

Mit einer anderen Beschaffung und Bevorratung als heute wären Lieferengpässe weitgehend vermeidbar, sagt Experte Wolfgang Greiner.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Engpässe bei Arzneimitteln gibt es seit Jahren. Und das Problem nimmt zu: "Die Anzahl der jährlichen Meldungen hat sich seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013 deutlich erhöht", sagt Gesundheitsökonom Wolfgang Greiner im Interview mit ntv.de. Auch wenn nicht jeder Lieferengpass gleich die Versorgungssicherheit gefährde, könne es im Einzelfall zu Unterbrechungen von Langzeittherapien kommen.

An diesem Mittwoch berät der Bundestag in erster Lesung über einen Gesetzentwurf, mit dem Gesundheitsminister Karl Lauterbach Lieferengpässe bei Arzneimitteln bekämpfen will. Greiner sagt, der Gesetzentwurf gehe "in die richtige Richtung", auch wenn er sich im Detail Verbesserungen vorstellen kann.

Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und lehrt dort Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement. Bis Anfang 2023 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld und lehrt dort Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement. Bis Anfang 2023 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

ntv.de: In der Öffentlichkeit sind Lieferengpässe von Arzneimitteln seit Jahren immer wieder ein Thema - schon 2017 verbrachte die Mehrheit der Apotheker nach eigenen Angaben ein Zehntel ihrer Arbeitszeit damit, sich um nicht lieferbare Medikamente zu kümmern. Ist es nur ein subjektiver Eindruck oder hat das Problem sich verschlimmert?

Wolfgang Greiner: Die Lieferengpässe haben in der Tat zugenommen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dokumentiert diese in einer öffentlichen Datenbank. Die Anzahl der jährlichen Meldungen hat sich seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013 deutlich erhöht, allerdings gefährdet nicht jeder Lieferengpass gleich die Versorgungssicherheit. Das hängt vor allem davon ab, ob man die momentan schwer lieferbaren Arzneimittel durch andere ersetzen kann, was meist der Fall ist. Die Zahl der Lieferengpässe, die vom BfArM als versorgungsrelevant eingestuft wurden, ist aber auch gestiegen.

Wie gravierend ist dieses Problem im Normalfall? Wie gefährlich ist es für Betroffene?

In den meisten Fällen können die Arzneimittel durch andere, verfügbare ersetzt werden. In wenigen anderen Fällen kann es aber durchaus zu Unterbrechungen von Langzeittherapien kommen oder im Akutfall wie bei den Antibiotika kann die Therapie erst mit Verzögerung einsetzen. Das gefährdet im Einzelfall die Versorgungssicherheit und wäre mit einer anderen Beschaffung und Bevorratung als heute weitgehend vermeidbar.

Warum sind vor allem Generika betroffen?

Es sind auch Arzneimittel betroffen, bei denen noch ein Patent besteht, aber in der Versorgung haben von der Menge her Generika eine viel höhere Bedeutung, daher wohl der Eindruck, dass das Problem in erster Linie bei Generika auftreten würde. Insbesondere in der Grundversorgung wie zum Beispiel bei der Behandlung von nicht schwerwiegenden Infektionserkrankungen sind Generika unverzichtbar.

Was sind die zentralen Ursachen für die Lieferengpässe? Probleme bei den globalen Lieferketten oder zu niedrige Preise in Deutschland, wie die Arzneimittelhersteller sagen?

Die Ursachen sind in der Tat vielfältig. Die Verlagerung der Grundstoffproduktion und auch der Endproduktion von Arzneimitteln nach Asien vollzieht sich schon seit vielen Jahren. Hier spielen vor allem Vorteile der Massenproduktion eine Rolle. Die Produkte werden sehr genau auf ihre Qualität geprüft, deshalb gab es zunächst keinen Grund, diese Entwicklung kritisch zu hinterfragen.

Günstige Preise durch weltweite Produktion führen dazu, dass die Gesundheitssysteme finanziell entlastet werden und andere Herausforderungen, wie zum Beispiel Investitionen in Digitalisierung, eine moderne Krankenhausstruktur und höhere Löhne im pflegerischen Bereich, gestemmt werden können. Allerdings kommt diese Entwicklung nun an Grenzen, wenn die Abhängigkeit von einzelnen Weltregionen zu groß wird und die Versorgungssicherheit zeitweise gefährdet sein könnte. Zudem kommt es immer wieder einmal dazu, dass etwa nach Verunreinigungen oder Bränden einzelne wichtige Produktionsstandorte ausfallen, was dann weltweit Folgen für die Liefersicherheit hat, wenn nicht auf andere Standorte ausgewichen werden kann. Bei besonderen Krankheitslagen wie beispielsweise im Frühjahr mit einer Infektionswelle mit dem RS-Virus kommen weitere Knappheiten hinzu, was auch dazu führen kann, dass die Produktionsländer wie China oder Indien die Exporte drosseln, um erstmal ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger zu versorgen.

Lohnt es sich für die Hersteller denn nicht mehr, den deutschen Markt zu beliefern?

Bei patentgeschützten Arzneimitteln ist das nicht der Fall, weil dort ein insgesamt recht hohes Preisniveau besteht. Aber wenn das Patent ausgelaufen ist, drängen weitere Hersteller auf den Markt, was weltweit zu starken Preisnachlässen führt, nicht nur in Deutschland. Wenn man aus Gründen der Versorgungssicherheit möchte, dass weiterhin in Europa nennenswerte Produktion dieser Arzneimittel stattfindet, müssen dafür die Preise steigen. Das kann man in getrennten Ausschreibungen gut regeln. Zum Beispiel könnten 30 Prozent des Bedarfes weltweit eingekauft werden, 30 Prozent ebenfalls weltweit, aber außerhalb der bisherigen Hauptlieferländer, zum Beispiel in den USA, Australien, Südafrika, und 40 Prozent bei europäischen Produzenten. Das Preisniveau würde natürlich steigen, es wäre eine Art Versicherungsprämie für eine höhere Versorgungssicherheit.

Die Krankenkassen argumentieren, dass die Festbeträge "die tatsächliche Marktlage" abbilden. Stimmt das?

Ja, das ist zutreffend. Ausschreibungen sind ein sehr gutes Instrument, um den Wettbewerb zu beleben und die Versicherten vor zu hohen Kosten zu schützen. Aber man muss eben aufpassen, dass es nicht zu Abhängigkeiten führt, die die Versorgungssicherheit gefährden könnten. Deshalb ist es wichtig, auf viele Hersteller und Weltregionen für die Produktion zu setzen. Aber dazu ist es nicht nötig, die Ausschreibungen abzuschaffen, auch nicht bei Kinder-Arzneimitteln.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat in seinem jüngsten Gutachten unter anderem Strategien zur Stärkung der Lieferketten und eine ausreichende Bevorratung gefordert. Sollte die EU nicht auch versuchen, die Produktion von Medikamenten zurück nach Europa zu holen?

Wir brauchen auf jeden Fall auch weiterhin einen Anteil europäischer Produktion. Wir haben in unserem Gutachten empfohlen, das durch kluge Ausschreibungen zu regeln, gegebenenfalls auch mit langfristigeren Verträgen, sodass es sich auch lohnt, neue Produktionskapazitäten zu schaffen. Eine direkte Subvention zum Aufbau oder als Vorhaltung für Arzneimittelproduktion wäre weit weniger effizient. Und die Produktion ganz nach Europa zurückzuholen, würde weit über das Ziel hinausschießen und uns von den unbestreitbaren Vorteilen der Globalisierung ganz abschneiden.

Mit dem Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz will die Bundesregierung unter anderem ein Frühwarnsystem beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte einrichten. Hat das BfArM solche Engpässe nicht längst im Blick?

Ja, es gibt dort bereits einen wissenschaftlich besetzten Beirat, der die Lieferengpässe beobachtet und die Entscheidungsträger berät. Dieses Gremium wird mit der geplanten Gesetzgebung gestärkt, zum Beispiel was Informationsrechte gegenüber der Industrie angeht. Zudem soll ein neues Frühwarnsystem eingerichtet werden, damit nicht erst reagiert werden muss, wenn der Lieferengpass schon da ist. Das ist grundsätzlich sinnvoll, es muss aber evaluiert werden, ob diese Maßnahmen wirklich effektiv sind. Diese Überprüfung ist im Gesetz für Ende 2025 vorgesehen, was mir etwas kurzfristig erscheint. Die Wirksamkeit der Maßnahmen sollte auch darüber hinaus überprüft werden.

Außerdem ist eine Pflicht zur mehrmonatigen Lagerhaltung vorgesehen. Sind Ihre Forderungen vom Januar damit erfüllt?

Das geht schon in die richtige Richtung. Wir hatten in unserem Gutachten vorgeschlagen, diese Bevorratung nach und nach auf alle besonders versorgungsrelevanten Arzneimittel - nach Definition der WHO - auszuweiten, bislang beziehen sich die Bevorratungsvorgaben vor allem auf Antibiotika. Aber als Einstieg ist das sehr zu begrüßen. Es wird jetzt darauf ankommen, diese Vorgaben auch in geeigneter Weise zu kontrollieren, ohne dass daraus ein Wust von Bürokratie wird. Auch hier wären digitale und automatisierte Rückmeldungen über den Bevorratungsstand ideal, also keine neue Zettelwirtschaft mit Faxmeldungen.

Mit Wolfgang Greiner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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