Die Umfragen schwach, das Image des Vorsitzenden angekratzt: Ein Jahr vor der Bundestagswahl versucht die FDP, das Ruder herumzureißen. Christian Lindner beschwört eine Rückbesinnung auf liberale Themen, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Und geht gestärkt aus dem Parteitag hervor.
Rund ein Jahr vor einer - allen Umfragen zufolge - schwierigen Bundestagswahl für die FDP haben die Liberalen auf ihrem Bundesparteitag in Berlin einander auf die kommenden Monate eingeschworen. Insbesondere der Parteivorsitzende Christian Lindner erntete für seine 70-minütige Rede, in der er die wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Kernwerte der FDP herausstellte, viel Zuspruch. Zahlreiche Redner lobten in der Aussprache den Kurs des zuletzt oft kritisierten Parteichefs. Die von Lindner betriebene Ablösung der bisherigen Generalsekretärin Linda Teuteberg durch Volker Wissing muss angesichts eines soliden Wahlergebnisses für den rheinland-pfälzischen Wirtschaftsminister als geglückt gelten. Die Verabschiedung des langjährigen Schatzmeisters Hermann Otto Solms aus dem Parteipräsidium bescherte den Delegierten zudem einen starken emotionalen Moment.
Wegen der Pandemie-Bedingungen darf schon der reibungslose Ablauf des Parteitags in einem Berliner Konferenzhotel als Erfolg gelten: Wegen der Neubesetzung von Vorstands- und Präsidiumsposten war ein nicht-digitaler Parteitag mit persönlicher Wahl notwendig. Im Ergebnis fand ein hybrider Parteitag statt, auf dem alles andere möglichst digital geregelt wurde, etwa die Antragsarbeit. Die Hygienevorschriften geboten strenge Abstände zwischen den fest vergebenen Sitzplätzen und vorgeschriebene Laufwege, was zu einem konzentrierten Ablauf des Parteitags beitrug. Zugleich führte ein sichtlich hoher Redebedarf während der offenen Aussprache zu Verzögerungen im Ablauf. Die üblichen und nicht unwichtigen Pläusche zwischen den Delegierten in und außerhalb des Saals fielen weg. Stattdessen hielt es die Teilnehmer zumeist auf ihren Plätzen.
FDP schuldenfrei, Solms neuer Ehrenvorsitzender
Ausnahmen bildeten vor allem die Reden von Lindner und Solms, die mit lang anhaltendem, stehenden Applaus bedacht wurden. Solms für seine politische Lebensleistung und weil er nach insgesamt 26 Jahren im Amt des Schatzmeisters erstmals seit den 90er Jahren einen schuldenfreien Haushalt der Bundespartei präsentieren konnte. 2013 stand die Partei vor der Pleite. Lindner pries Solms als "moralische Autorität mit klarem Wertekompass" und schlug ihn, selbst sichtlich gerührt, als Ehrenvorsitzenden vor. Neuer Schatzmeister wurde mit 73 Prozent der Stimmen der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Harald Christ, der erst seit einem halben Jahr der FDP angehört.
Lindner traf offenbar mit einer für seine Verhältnisse zurückhaltend vorgetragenen Rede den Nerv der Zuhörer, als er vor allem das Selbstbild der Freien Demokraten als Vorkämpfer des Liberalismus beschwor. Der Fraktionsvorsitzende warb für den Abbau von Vorschriften für die Wirtschaft, für niedrigere Steuersätze und Sozialabgaben und weniger Sozialstaatsausgaben sowie Innovationsförderung und den Erhalt gesellschaftlicher Grundfreiheiten.
Gegen autoritäre Politik und Staatswirtschaft
"Man liest jetzt gelegentlich von der Krise der FDP", sagte Lindner mit Blick auf Umfragen, die die Partei im Bund nur bei 5 Prozent sehen. "Na klar, wir haben keine guten Umfragen. Das Auf und Ab in der Demoskopie gibt es, aber das ist keine Krise. Krise ist, wenn man nicht weiß, wer man ist." Die Liberalen wüssten aber sehr wohl, wofür sie stehen. "Wir wollen den einzelnen Menschen stärken", sagte Lindner und warnte vor einer neuen "Untertanenmentalität", die sich in Deutschland in der Corona-Krise breitmache. Lindner wandte sich gegen den "Typus des gestrengen Landesvaters à la Söder".
"Wir brauchen selbstverständlich eine Steuerreform", sagte Lindner und warnte vor exzessiven Staatsausgaben der SPD und den Klimaschutzplänen der CDU. Die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vorgeschlagenen, jährlichen CO2-Sparvorgaben für einzelne Branchen verglich Lindner mit den Fünf-Jahres-Plänen der Sowjetunion. "Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu, das ist gelenkte Staatswirtschaft."
Lindner warb dafür, sowohl die Corona-Pandemie als auch die Klimakrise durch mehr Anreize zu technologischer Innovation zu lösen. Wirtschaftswachstum müsse durch eine Entfesselung der Unternehmen entfacht werden. Lindner warb mit Blick auf den Klimawandel vor allem für Technologieoffenheit, aktive Forschungspolitik und marktwirtschaftliche Lösungen wie einen Zertifikatehandel. "Wettbewerb ist der beste Klimaschützer", sagte Lindner unter Applaus.
Wissing zeigt klare Kante
Lindner hat sich erkennbar entschieden, mit einem noch deutlicher wirtschaftsfreundlichen Profil in das anstehende Superwahljahr 2021 zu gehen. Hierfür hatte er auch die erst im Vorjahr mit einem starken Ergebnis gewählte Teuteberg aus dem Amt des Generalsekretärs getrieben. Ein Schritt, den Lindner ausdrücklich als taktisch und nicht persönlich verstanden wissen wollte, weil er andere Schwerpunkte setzen wolle.
Wissing bestätigte diese Neuausrichtung mit einer klar wirtschaftsliberalen Bewerbungsrede. Er predigte "mehr Flexibilität und mehr Freiheit" und kritisierte staatliche Beteiligungen an Unternehmen. "Wir brauchen keinen Staat, der sich in die Wirtschaft einmischt", sagte der 50-Jährige. "Es sind die Einzelnen, die eine Gesellschaft voranbringen", sagte Wissing, der zusätzlich zu seinem Parteispitzenamt Landesminister bleiben will. "Haben wir den Mut, Unterschiede zu akzeptieren, damit das Streben der einen zur Chance für viele werden kann."
Die 82,8 Prozent Zustimmung, die Wissing von den Delegierten erhielt, lagen zwar unter den 92 Prozent Teutebergs, waren aber dennoch ordentlich. Teuteberg selbst verabschiedete sich mit einer knappen Rede von ihrem Kurzzeitposten - ohne nachzutreten. Andererseits erwähnte sie Lindner mit keinem Wort.
Etwas mehr Luft für Lindner
Der insgesamt reibungslose Ablauf, die vielen freundlichen Worte der Delegierten für Lindner und das gute Ergebnis für Wissing dürften dem Vorsitzenden etwas Ruhe in der Debatte über seine Person verschaffen. Dass auch er unter Druck steht, räumte Lindner während des Applauses am Ende seiner Rede ein: "Ich weiß es zu schätzen, ich brauche es auch mal. Das tut gut, vielen Dank für die Rückenstärkung."
Er hat nun genau ein halbes Jahr bis zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Dann wird die Partei wissen, ob ihre fortgesetzte Konzentration auf die Personalie Lindner, die Fokussierung der Partei auf ihre Kernthemen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der neue Generalsekretär früchtebringende Entscheidungen waren. Wie lange der derart festgezurrte Burgfrieden hält, sollte die FDP bis ins neue Jahr hinein im Umfragetief verharren, ist ungewiss - auch nach diesem Parteitag, der Corona-bedingt ausschließlich verbalen Schulterklopfer.
Quelle: ntv.de