"Alle sind nur erschöpft" Massen-Desertionen haben fatale Folgen für die Ukraine
30.11.2024, 07:51 Uhr Artikel anhören
Es ist ein kritisches Problem für die ukrainische Armee: Nach fast drei Jahren Krieg sind große Teile der Truppen völlig ausgelaugt. Weil sie keine Hoffnung mehr haben, demobilisiert zu werden, ziehen sich viele Soldaten einfach zurück - teilweise inmitten von Gefechten.
Der Ukraine fehlt es an Munition, aber auch an Soldaten. Und während der Großteil der Truppen sich trotz Unterlegenheit tapfer gegen russische Angriffe wehrt, kommt es zunehmend vor, dass Angehörige der ukrainischen Streitkräfte ihre Posten einfach verlassen. Andere melden sich nach einer medizinischen Behandlung nicht mehr zurück zum Dienst und tauchen unter. Die Zahl der Desertionen geht in die Zehntausende.
Laut Berichten von Anwälten, Kommandanten sowie einigen Deserteuren, die gegen Zusicherung von Anonymität über das Thema sprachen, ist das Problem weit größer als weithin bekannt. Demnach wurden zuletzt wichtige Schlachten an der Front auch deswegen verloren. Zum Teil sollen ganze Einheiten entgegen ihrer Befehle Stellungen aufgegeben haben. Dadurch seien Verteidigungslinien geschwächt und russische Vorstöße ermöglicht worden, heißt es.
Die Sache sei wirklich kritisch, sagt Olexandr Kowalenko, ein in Kiew ansässiger Militäranalyst. "Dies ist das dritte Jahr des Krieges, und dieses Problem wird nur noch größer werden." Auch auf russischer Seite soll es zwar Desertionen geben. Aber für die Ukraine sind die Folgen angesichts der generellen Engpässe gravierender. Die auch dadurch verursachten Geländeverluste könnten nicht zuletzt die Position des Landes bei eventuellen künftigen Verhandlungen deutlich schwächen.
Mehr als 100.000 Soldaten angeklagt
"Es ist klar, dass wir, offen gesagt, bereits das Maximum aus unseren Leuten herausgeholt haben", sagt ein Offizier der 72. Brigade, die lange die ukrainische Stadt Wuhledar verteidigt hatte. Ihm zufolge waren Desertionen einer der Hauptgründe dafür, dass die strategisch wichtige Stadt im Oktober aufgegeben werden musste.
Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 mehr als 100.000 Soldaten nach den Desertionsgesetzen des Landes angeklagt worden. Die Zahl ist enorm - zumal bis vor einer umstrittenen Mobilisierung in diesem Jahr die Gesamtzahl der ukrainischen Soldaten im Kampfeinsatz laut Schätzungen bei etwa 300.000 lag. Die Dunkelziffer könnte sogar noch viel höher sein. Laut einem Abgeordneten, der mit militärischen Angelegenheiten vertraut ist, hat es womöglich bis zu 200.000 Desertionen gegeben.
In vielen Fällen handelt es sich um Soldaten, die nach einer Auszeit aus medizinischen Gründen nicht mehr an die Front zurückkehren. Nach Monaten oder gar Jahren im Dauereinsatz sind sie oft nicht nur erschöpft, sondern psychisch und emotional am Ende. Manche haben Schuldgefühle, weil sie nicht mehr den Willen aufbringen können, erneut für ihr Land in den Kampf zu ziehen. Andere sind wütend über die Art der Kriegsführung - oder frustriert, weil ein Sieg unerreichbar erscheint.
Aufgabe inmitten von Gefechten
"Ein solch großes Problem totzuschweigen, schadet unserem Land nur", sagte Serhij Hnesdilow, einer der wenigen Soldaten, die sich über ihre Entscheidung zu desertieren offen geäußert haben. Kurz nach seinem Gespräch mit der AP im September wurde auch er angeklagt. Nach fünf Jahren Militärdienst habe er keine Hoffnung mehr gesehen, jemals demobilisiert zu werden - und wenn es kein Ende gebe, werde es "zu einem Gefängnis", sagte er. "Es wird dann psychologisch schwierig, Gründe zu finden, dieses Land zu verteidigen."
Ein anderer Deserteur spricht von Alpträumen, die ihn bis heute plagen würden. Man müsse sich vorstellen, dass 50 Geschosse auf einen zukämen und man selbst nur ein einziges abfeuern könne, sagt er. "Dann sieht man, wie die eigenen Kameraden in Stücke gerissen werden und es wird einem klar, dass genau das auch einem selbst jeden Moment passieren kann." Gleichzeitig sage irgendwer, der sich zehn Kilometer entfernt aufhalte, über Funk: "Los, reißt euch zusammen. Alles wird gut."
Besonders folgenschwer sei es, wenn Soldaten inmitten von Gefechten ihre Positionen aufgäben, sagt der Leiter der Rechtsabteilung einer Brigade, der dafür zuständig ist, solche Fälle zu bearbeiten und an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. "Wir hatten mehrere Situationen, in denen Einheiten, große wie kleine, flüchteten. Sie legten Flanken frei, und der Feind kam an diese Flanken und tötete ihre Kameraden, weil diejenigen, die auf den Positionen standen, gar nicht wussten, dass niemand mehr in der Nähe war."
"Fast keinen gesungen Menschen mehr" in Infanterie
In Wuhledar, wo es den ukrainischen Streitkräften besonders an Soldaten gefehlt habe, seien zuletzt etwa 20 Prozent der "Verluste" Desertionen gewesen, sagt ein Offizier der 72. Brigade, der sich als einer der letzten aus der Stadt zurückzog. "Der Prozentsatz ist von Monat zu Monat exponentiell gestiegen", betont er. Trotzdem könne er die Männer verstehen. "In diesem Stadium verurteile ich keinen der Soldaten", sagt er. "Denn alle sind einfach nur erschöpft."
Aus Kreisen der Streitkräfte sowie der Strafverfolgungsbehörden heißt es, Anklagen würden vermieden, wenn Soldaten überredet werden könnten, doch wieder zum Dienst zurückzukehren. Wenn es aber schließlich zu einer Anklage gegen einen Deserteur komme, sei die Verteidigung schwierig, betonen Anwälte, die mit solchen Fällen befasst sind.
Meist werde auf den psychologischen Zustand des Mandanten zum Zeitpunkt der Desertion verwiesen, sagt die Anwältin Tetjana Iwanowa. "Die Menschen können die Situation, in der sie sich befinden, psychisch nicht mehr bewältigen und sie erhalten keine psychologische Hilfe", betont sie. Sollte ein Soldat aber deswegen freigesprochen werden, würde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, räumt die Anwältin ein. Denn "dann ist fast jeder berechtigt" zu desertieren, weil es in der Infanterie "fast keinen gesunden Menschen mehr gibt".
Quelle: ntv.de, Samya Kullab und Volodymyr Yurchuk, AP