
Merkel und Söder sind mit der Impfquote unzufrieden.
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Eine Testpflicht ab einer 35er Inzidenz und das nahe Ende der kostenlosen Corona-Tests sind nur erste Schritte im Kampf um eine höhere Impfquote. Bundeskanzlerin Merkel und Bayerns Ministerpräsident Söder drohen, wohl auch aus Ratlosigkeit, offen mit Freiheitsbeschränkungen für Ungeimpfte.
Im Streit um die Steigerung der Impfquote drohen Bund und Länder mit einem Rechte-Entzug nur für Spritzen-Verweigerer. "Die Geimpften werden dann sicher auch anders behandelt als die Nichtgeimpften, wenn man eine weitere Steigerung des Infektionsgeschehens hat", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel am Ende einer denkwürdigen Pressekonferenz. Es ist der Tag, an dem sie die Ministerpräsidenten der Länder auf ihren Kurs eingeschworen hat: Um die Zahl der Geimpften auf eine Zielmarke "deutlich über 70 Prozent und hin zu 80 Prozent" zu bekommen, wie die Kanzlerin festhält, werden den Säumigen und Verweigerern die Daumenschrauben angelegt. Ab Oktober werden selbige Schrauben schrittweise angezogen - solange, bis der Schmerz Faulheit oder Skepsis überwiegt.
Die Daumenschraube ist erst einmal rein finanzieller Natur: Der Beschluss, die kostenlosen Bürgertests am 10. Oktober auslaufen zu lassen, setzt den Ungeimpften von heute an eine Acht-Wochen-Frist. Ab dem Tag danach wird der Zugang zu Alten- und Pflegeheimen, zu körpernahen Dienstleistungen wie Frisören und Masseuren, zu Sportstätten, zu Veranstaltungen und Gastronomie im Innenraum für Millionen Menschen Geld kosten. Denn wer dann keinen Nachweis über eine Impfung oder Genesung vorweisen kann, wird einen aktuellen, kostenpflichtigen Test benötigen.
Dafür sorgt ein zweiter Beschluss dieses Dienstags: Ab einem Inzidenzwert von 35 werden alle Bundesländer und Kommunen sich an die 3G-Regel halten und Ungeimpften und Nicht-Genesenen einen Test als Zugangsvoraussetzung vorschreiben. Dass diese Inzidenzschwelle bald wieder überall in Deutschland überschritten wird, scheint eher eine Frage von Tagen, denn von Wochen zu sein - wofür die Ungeimpften maßgeblich verantwortlich sind.
Kein Lockdown für Geimpfte
Dass im Herbst noch schärfere Maßnahmen folgen könnten, um mehr Menschen zur Impfung zu bewegen, machen erst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und anschließend auch die Kanzlerin deutlich. "Einen Lockdown wird es so nicht mehr geben, auf keinen Fall für Zweitgeimpfte", sagt Söder und verweist darauf, dass es verfassungsrechtlich gar nicht möglich sei, Zweifachgeimpften Rechtseinschränkungen zuzumuten. Hinzu komme das nachlassende Verständnis der geimpften Teile der Bevölkerung: "Es gibt immer mehr Menschen, die sagen: 'Wieso? Ich bin zweimal geimpft. Ich möchte jetzt meine Rechte wiederhaben.'"
Daher könne ein möglicher erneuter Lockdown Geimpfte und Ungeimpfte nicht gleichbehandeln, sagt der CSU-Chef und damit es auch der Letzte versteht: "Dass es irgendwann auch stärker eine Unterscheidung geben kann bei den Rechten, das möchte ich auch ehrlich sagen." Söder sagt auch, dass es Merkel gewesen sei, die im Verlauf einer "munteren Diskussion" mit den Ministerpräsidenten auf eine einheitliche Testpflicht aber 35er Inzidenz gedrungen habe.
Die Kanzlerin bestätigt hernach, wie "glücklich" sie über diese Entscheidung sei und schließt sich dem Söder'schen Szenario an: "Solange der Impfstoff wirkt, können wir nicht einfach sagen: 'Ein Geimpfter darf nicht seine Rechte als Bürger ausüben'", skizziert die Kanzlerin den Umgang im Falle einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems. Diese sei unbedingt zu vermeiden: "Wir müssen auch an die denken, die in den Krankenhäusern die Arbeit tun", sagt Merkel.
Zwischen Ratlosigkeit und Verzweiflung
Es ist der stets zurückhaltender als Söder auftretende Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, der die Erklärung zu diesen unerwartet scharfen Äußerungen liefert: "Die Gruppe der Ungeimpften ist zu groß", sagt der SPD-Politiker und räumt ein: "Es ist schon bitter zu sehen, dass so viele immer noch Vorbehalte haben." Bei einer Quote von bisher 55,1 Prozent Zweitgeimpften und 62,5 Prozent Erstgeimpften ist bei den Regierenden die Skepsis groß, allein durch niedrigschwellige Angebote wie Impfpartys und aufsuchenden Impfteams in absehbarer Zeit substanziell voranzukommen. Ohne es so auszusprechen, räumt das Trio ein: Zuckerbrot allein werde wohl nicht ausreichen, um das Ziel von deutlich mehr als 70 Prozent Durchimpfung zu erreichen.
Dabei geben sich Merkel, Müller und Söder abermals Mühe, für den doppelten Piks zu werben. "Wir wollen alle, dass wir mit niedrigschwelligen Maßnahmen den Anstieg der Infektionszahlen eindämmen können", sagt Merkel und fordert die Geimpften des Landes auf, in ihrem Familien- und Bekanntenkreis für die Spritze vom Staat zu werben. "Impfen, Impfen, Impfen ist nach wie vor das Gebot der Stunde", sagt Müller und argumentiert: "Wir sehen ja auch, wie das Impfen schützt." Während die Inzidenzzahl bei den gut durchimpften über 60-Jährigen niedrig sei, läge sie in Berlin bei den um die 20-Jährigen derzeit bei "um die 100".
Merkels langer Herbst
Söder appelliert: "Wir bekommen die Gefahr einer Pandemie der Ungeimpften." Der Steuerzahler könne aber nicht "auf Dauer Unmengen von Tests bezahlen", um den Ungeimpften die Teilnahme am öffentlichen Leben zu gewähren. Das Ende kostenloser Bürgertests sei daher "natürlich gerecht". Dass sich der Staat mit seinen angedrohten Maßnahmen an den Freiheitsrechten der Ungeimpften vergehen könnte, sieht der CSU-Chef nicht so: "Wer wirklich ein freiheitsliebender Mensch ist, dem nochmal die Empfehlung, das ausführlich zu überlegen", sagt Söder über die Impfung.
Warum die Daumenschrauben nicht an diesem Dienstag schon angezogen werden? "Es wäre jetzt auch aus meiner Sicht nicht gut, dass wir gar nicht mal abwarten, wie sich unsere Maßnahmen jetzt auswirken", sagt Merkel über die kommende Testpflicht und das Ende der Bürgertests. Wegen sich voraussichtlich monatelang hinziehender Koalitionsverhandlungen, wird Merkel auch Mitte Oktober, nach der Bundestagswahl, noch geschäftsführend im Amt sein - und dann womöglich erklären müssen, dass eine eigentlich schon abgewählte Regierung Millionen ungeimpfte Menschen von weiten Teilen des öffentlichen Lebens ausschließen will. Wie das überhaupt gehen soll, ob Ungeimpfte dann keinen Frisör aufsuchen dürften oder gar Kontaktbeschränkungen auferlegt bekommen, dürfte auch die Kanzlerin umtreiben.
Quelle: ntv.de