Rybar widerspricht Kreml-Angaben Russischer Kriegsblog: Kiews Einheiten rücken in Kursk weiter vor
08.08.2024, 20:09 Uhr Artikel anhören
Ein russischer Militärtransport ist auf dem Weg nach Sudscha.
(Foto: picture alliance / Sipa USA)
Moskau behauptet, der ukrainische Vorstoß in der Grenzregion Kursk sei gestoppt. Doch russische Militärblogger widersprechen den Angaben aus dem Kreml. Demnach sollen Kiews Einheiten weiterhin auf dem Vormarsch sein.
Die ukrainische Armee hat den dritten Tag in Folge ihre überraschende Offensive über die Grenze ins russische Gebiet Kursk vorangetrieben und Geländegewinne erzielt. Zwar teilten die zivilen russischen Behörden in Kursk wie auch das Verteidigungsministerium in Moskau offiziell mit, der ukrainische Vormarsch sei gestoppt worden. Doch unter anderem der russische Militärblog Rybar, der dem Ministerium nahesteht, zeichnete ein anderes Bild: Demnach rückten die Ukrainer weiter vor, zogen in der Nacht Reserven nach und begannen damit, ihre Stellungen zu befestigen.
Die russische Reaktion auf die grenzüberschreitende Offensive erfolgte erst langsam. Über das Gebiet Kursk, in dem Tausende auf der Flucht sind, wurde der Ausnahmezustand verhängt. Die Bahnhöfe der grenznahen Städte Sudscha, Korenowo und Psel wurden für den Passagierverkehr geschlossen, wie die Eisenbahndirektion in Moskau mitteilte. Verletzte aus dem Gebiet Kursk, vor allem Kinder, wurden in Krankenhäuser in der Hauptstadt gebracht. Von dort wiederum fuhren Ärzte in das umkämpfte Gebiet.
Rybar: Westen von Sudscha unter ukrainischer Kontrolle
Ein Vordringen der ukrainischen Truppen sei dank des Einsatzes von Grenztruppen, herangeführten Reserven, Luftangriffen und Artilleriebeschuss unterbunden worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Generalstabschef Waleri Gerassimow behauptete gegenüber Präsident Wladimir Putin während einer Videoschalte, bei den Kämpfen seien etwa 100 ukrainische Soldaten getötet und mehr als 200 weitere verletzt worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Rybar berichtete unterdessen, der westliche Teil der Kleinstadt Sudscha sei unter ukrainischer Kontrolle. Gekämpft werde um den Osten der Stadt. Außerdem seien die Ukrainer weiter nach Norden vorgestoßen in Richtung Anastassejewka sowie nach Nordosten Richtung der Siedlung Korenowo, die etwa 20 Kilometer von der Grenze entfernt liegt.
Örtlichen Berichten zufolge gibt es jedoch keine ukrainische Präsenz in Sudscha selbst. Lediglich nördlich und westlich der Stadt wird von Schießereien und Artilleriebeschuss berichtet. Nicht bestätigten Berichten zufolge seien ukrainische Aufklärungseinheiten auch in Richtung des Atomkraftwerks Kursk vorgerückt und bei Anastassejewka, etwa 27 Kilometer entfernt von der Grenze, gesichtet worden. Am Abend berichteten russische Kriegsblogger, dass in Bolschoje Soldatskoje eine Evakuierungsaktion laufe. Der kleine Ort befindet sich etwa 30 Kilometer von der Grenze entfernt.
"Die ukrainische Armee kann überraschen"
Offiziell hält sich die Ukraine weiter bedeckt zu dem Vorstoß auf gegnerisches Gebiet, der am Dienstag begonnen hatte. Im Morgenbericht des Generalstabs wurde die Offensive nicht erwähnt. Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte allerdings bei der Vorstellung einer Handy-App für das Militär: "Die ukrainische Armee kann überraschen. Und sie kann Ergebnisse erzielen." In seiner abendlichen Videoansprache sagte Selenskyj, Russland müsse die Folgen des von ihm ausgelösten Krieges spüren. Russland habe den Krieg über die Ukraine gebracht, nun solle es "spüren, was es getan hat".
Bei Sudscha befindet sich eine Gasmess- und Verdichterstation, die für russische Gasexporte nach Westen wichtig ist und mutmaßlich in der Hand der Ukrainer ist. Trotzdem meldete der russische Gaskonzern Gazprom nur einen geringen Rückgang der Durchleitung. Von Sudscha führt der Transit durch die Ukraine und weiter in die Slowakei und nach Österreich. 2023 wurden auf diesem Wege trotz des laufenden Krieges 14,6 Milliarden Kubikmeter Erdgas in die Europäische Union transportiert.
Während bei bisherigen Vorstößen von ukrainischem Gebiet nach Russland nur irreguläre Einheiten zum Einsatz kamen, rücken dieses Mal allen Berichten nach reguläre ukrainische Truppen mit Panzern, Artillerie und Flugabwehr vor. Nach russischen Angaben sollen sich unter den angreifenden Einheiten unter anderem drei mechanisierte Brigaden befinden, namentlich die 22. 32. und 88. Der Schritt über die Grenze bedeutet eine Veränderung der Kiewer Kriegsführung. Sie setzte bislang auf Rückeroberung oder Verteidigung eigener Gebiete, russische Gebiete wurden aus der Luft mit eigenen Drohnen und Raketen beschossen. Die meisten westlichen Waffenlieferanten haben den Einsatz ihrer Waffen auf russische Militärziele in der Ukraine beschränkt.
"Entweder ein brillanter Gegenschlag, oder ein strategischer Fehler"
Über das Ziel des Vorstoßes wird indes weiter gerätselt, denn eigentlich bräuchte die Ukraine die Truppen, um die bröckelnde Front im Gebiet Donezk zu stabilisieren. Andererseits verschafft ihr der Angriff ein Überraschungsmoment. Womöglich will die Ukraine Russland zwingen, seine Kräfte umzugruppieren, nachdem Moskau zuletzt Geländegewinne im Donbass verzeichnete und Kiews Truppen in die Defensive gedrückt hatte. Diskutiert wird weiter auch, dass die Ukraine einem russischen Angriff auf ihr Gebiet Sumy zuvorkommen wollte. Russland hatte im Mai bei der ostukrainischen Großstadt Charkiw eine neue Front eröffnet.
Der ukrainische Präsidentenberater Myhajlo Podoljak sagte, die Angriffe in der Grenzregion brächten Russland dazu, "zu erkennen, dass der Krieg langsam in das russische Territorium eindringt". Das werde den Russen sicher einen Schrecken einjagen. "Wann wird es möglich sein, einen Verhandlungsprozess so zu führen, dass wir sie drängen oder etwas von ihnen bekommen können? Nur dann, wenn der Krieg nicht nach ihren Szenarien abläuft", sagte er.
"In einer Zeit, in der die ukrainischen Verteidiger im Osten an mehreren Abschnitten zurückgedrängt werden, ist der Einsatz von fähigen Kampftruppen in Kursk entweder ein brillanter Gegenschlag, um das Gleichgewicht des Krieges zu verschieben, oder ein strategischer Fehler", schrieb der US-Experte und frühere General Mick Ryan im Netzwerk X.
Quelle: ntv.de, jpe/dpa/AP