"Züge eines Vernichtungskrieges" Russland setzt in der Ukraine zunehmend auf Terror
16.03.2022, 13:37 Uhr
Bis zu 40 Prozent seiner Einheiten soll Russland seit dem Überfall auf die Ukraine verloren haben - behauptet der Generalstab in Kiew. Gut möglich, dass das übertrieben ist. Doch Russland geht zunehmend brutal gegen die Zivilbevölkerung vor. Experte Masala sieht Anzeichen für einen Vernichtungskrieg.
Mit zunehmender Brutalität gehen die russischen Truppen in der Ukraine vor. Fast täglich gibt es Berichte über bombardierte Wohngebiete und zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser. Bereits vor Tagen sprach daher der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von "blankem Terror von erfahrenen Terroristen".
Allein die Meldungen der vergangenen Stunden sprechen eine eindeutige Sprache - bei aller Vorsicht angesichts schwer überprüfbarer Angaben. So soll Russland die Stadt Saporischschja angegriffen haben, die bisher als Zufluchtsort für Menschen aus dem belagerten Mariupol galt. "Erstmals sind zivile Objekte in Saporischschja angegriffen worden", schrieb Gouverneur Alexander Staruch bei Telegram. Die Raketen seien unter anderem auf einem Bahnhofsgelände eingeschlagen, es sei niemand getötet worden.
In Mariupol harren derweil nach Angaben von Hilfsorganisationen rund 400.000 Menschen ohne fließendes Wasser oder Heizung aus, die Lebensmittel werden knapp. Am Dienstag gelang nach ukrainischen Angaben rund 20.000 Menschen die Flucht aus der belagerten Stadt - nach Saporischschja. Laut der ukrainischen Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk nahmen russische Truppen zudem ein Krankenhaus in der Stadt ein und halten dort 400 Patienten und Mitarbeiter als Geiseln. Von russischer Seite gibt es dazu bisher keine Stellungnahme.
Neue Bombardements wurden in der Nacht auch aus Kiew gemeldet. Laut Korrespondenten der Nachrichtenagentur AFP gab es am frühen Morgen drei Detonationen im Westen der Hauptstadt. Auch CNN-Reporter berichteten von Explosionen in Vororten. Nicht nur in Kiew, sondern auch in anderen Städten habe es Luftalarm gegeben, berichtete das ukrainische Nachrichtenportal "The Kyiv Independent". Darunter waren demnach Charkiw, Lwiw, Odessa, Dnipro, Winnyzja, Iwano-Frankiwsk und Kirowohrad.
Ausgangssperre soll Zivilisten schützen
Experte Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Uni in München, sieht "schon Züge eines Vernichtungskrieges in gewissen Teilen der Ukraine". "Ich würde jetzt nicht sagen, das ist eins zu eins die Strategie, die Russland in Syrien und im ersten Tschetschenien-Krieg - also mit Blick auf Grosny - verfolgt hat", sagte Masala im werktäglichen Podcast "Ukraine - Die Lage" des "Stern". Aber er sehe natürlich Anzeichen dafür, "weil der wahllose Beschuss von Städten, von zivilen Einrichtungen und so weiter seitens der Russischen Föderation an Intensität und Masse zunimmt".
Masala verweist in diesem Zusammengang auch auf den Beschuss der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Es sei zwar aus militärischer Perspektive klar, dass Russland versuche Odessa einzunehmen. "Allerdings haben wir keine russischen Truppen in Odessa, die diesen seeseitigen Angriff unterstützen könnten", sagte Masala. Daher mache dieser Angriff so erstmal keinen Sinn, "es sei denn, man weiß - aber dafür haben wir keine Hinweise -, dass russische Truppen auf dem Weg nach Odessa sind, oder aber wir machen jetzt ganz einfach den Terror, den wir in anderen Städten machen, auch in Odessa von der Seeseite her".
Für Kiew hatte Bürgermeister Vitali Klitschko am Dienstag eine 35-stündige Ausgangssperre über die Stadt verhängt, die bis Donnerstagmorgen um 6 Uhr gelten soll. "Die Ausgangssperre ist primär auch dazu da, dass die Zivilisten geschützt werden vor dem Bombardement der russischen Artillerie und teilweise auch der russischen Luftwaffe", sagt dazu Experte Masala. "Wenn man sich zu oft und zu lange und auch nachts, wo ja bevorzugt beschossen wird, auf der Straße aufhält, dann riskiert man ganz einfach, dass man Opfer dieses Krieges wird."
Bis zu 40 Prozent der Einheiten verloren?
Die zunehmende Brutalität gegen die Zivilbevölkerung dürfte eine Folge der Misserfolge der russischen Truppen sein. Zuletzt hatte erstmals ein ranghoher Beamter aus dem Umfeld von Präsident Wladimir Putin eingeräumt, dass Russland nicht so vorankomme wie geplant. Der Kremlchef hatte stets behauptet, alles laufe nach Plan - auch zeitlich. Dagegen sagte nun der Chef der russischen Nationalgarde, Viktor Solotow: "Ich möchte sagen, dass, ja, nicht alles so schnell läuft, wie man sich das wünschen würde." Er sprach davon, dass sich "Nazisten" in der Region hinter friedlichen Bürgern, darunter Frauen und Kindern, in Schulen, Kindergärten und Wohnhäusern verstecken würden.
Die ukrainische Seite dagegen verkündet immer wieder neue Erfolge. Erst am Mittwoch hieß es, die ukrainischen Streitkräfte hätten den russischen Truppen erneut schwere Verluste zugefügt. Nahe Odessa seien zwei Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-30 abgeschossen worden, teilte die ukrainische Luftwaffe mit. Nach Angaben des Generalstabs in Kiew leisten ukrainische Truppen landesweit heftigen Widerstand. Die russische Armee habe seit Ausbruch des Krieges bereits bis zu 40 Prozent ihrer Einheiten verloren, hieß es. Auch das kann unabhängig nicht überprüft werden - gut möglich, dass diese Angaben aus Propaganda-Gründen übertrieben sind.
Doch auch Großbritannien spricht von großen Verlusten auf russischer Seite. Die ukrainischen Streitkräfte hätten taktisch Russlands Schwächen ausgenutzt, den russischen Vormarsch vereitelt und "den Truppen schwere Verluste zugefügt", hieß es am Mittwoch vom britischen Verteidigungsministerium. Die Russen täten sich schwer mit den Herausforderungen des ukrainischen Geländes. Da es ihnen nicht gelungen sei, den Luftraum unter ihre Kontrolle zu bringen, seien ihre Optionen begrenzt.
Angesichts der hohen Verluste und des zunehmend brutalen Vorgehens der russischen Truppen wuchsen zuletzt aber auch Befürchtungen vor einem Einsatz von Chemiewaffen durch Russland. "Die Möglichkeit besteht, die darf man nicht ausschließen, die darf man nicht kleinreden. Aber die Wahrscheinlichkeit sehe ich momentan noch nicht gegeben", sagte dazu Experte Masala. Dabei stelle sich immer die Frage, wie die internationale Staatengemeinschaft darauf reagieren würde. "Das sind alles Faktoren, die die Russen nicht einschätzen können. Von daher glaube ich, dass man mit dem Gebrauch von Chemiewaffen hier her zurückhaltend sein wird."
Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP