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Spielsucht an der Front Soldaten verzocken Sold in Online-Casinos

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Die Arbeit in den Schützengräben ist lebensgefährlich, aber trotzdem mitunter eintönig.

Die Arbeit in den Schützengräben ist lebensgefährlich, aber trotzdem mitunter eintönig.

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Eine Petition beim ukrainischen Präsidenten hat die Aufmerksamkeit des Landes auf ein ungewöhnliches Problem gelenkt: Spielsucht von Frontsoldaten. Es soll sogar vorkommen, dass Soldaten Drohnen an Pfandhäuser abgeben. Die Politik will reagieren.

Verspielen ukrainische Soldaten zu viel Geld in Online-Casinos? Eine der heißesten gesellschaftlichen Diskussionen in dem von Russland überfallenen Land dreht sich in den letzten Wochen genau um dieses Thema. Ausgelöst wurde die Debatte von Pawlo Petrytschenko, Soldat der 59. Brigade, der am 29. März eine Petition auf der Webseite des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj registrierte.

Darin fordert Petrytschenko das Staatsoberhaupt dazu auf, für die Zeit des Kriegsrechts den Zugang für Soldaten zu Glücksspielen und Online-Casinos einzuschränken. Außerdem plädiert er dafür, dass für Glücksspiele nicht mehr unter Verwendung der Symbole der ukrainischen Streitkräfte geworben wird, was vor allem online weit verbreitet ist.

Bei Auftritten im Fernsehen verwies Petrytschenko auf das Beispiel eines Soldaten, der allein umgerechnet rund 16.500 Euro verspielt hat. "Es gibt nicht wenige Fälle, in denen spielsüchtige Soldaten ihr ganzes Geld für Spiele ausgeben, Kredite aufnehmen und sich sowie ihre Familie in eine Schuldengrube stürzen", schrieb er in seiner Petition. "Auch kommt es vor, dass sie Drohnen und Wärmebildkameras an Pfandhäuser abgeben. Damit schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kameraden." Der Parlamentsabgeordnete Oleksij Hontscharenko von der Oppositionsfraktion Europäische Solidarität behauptete sogar, neun von zehn Soldaten an der Front hätten Probleme mit Online-Casinos.

Auch an der Front gibt es Phasen der Langeweile

Hontscharenko gehört zu den populistischsten Abgeordneten der Werchowna Rada und nutzt auch sensible und kaum umsetzbare Forderungen wie die Demobilisierung der Soldaten, die seit dem ersten Kriegstag bei der Armee dienen, für eigene PR-Zwecke. Daher ist davon auszugehen, dass er mit seiner Einschätzung deutlich übertrieben hat. Tatsächlich traf die Petition aber einen Nerv. Binnen weniger Stunden sammelte sie 25.000 verifizierte elektronische Unterschriften. Nach dem Erreichen dieser Zahl ist der Präsident verpflichtet, auf die Petition zu reagieren. Selenskyj ordnete seine Sicherheitsbehörden an, die Situation zu analysieren und Lösungen zu erarbeiten.

Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass ukrainische Militärangehörige verstärkt bei den Online-Casinos spielen? Die mutmaßliche Zunahme des Zockens dürfte eine nahezu natürliche Entwicklung sein. Die Soldaten an den vorderen Linien der Front bekommen mit umgerechnet rund 2500 Euro ein vergleichsweise hohes Gehalt. Wer keine Familie hat, kann das Geld kaum ausgeben, sieht möglicherweise aber auch keinen Grund, besonders zu sparen - schließlich besteht täglich die Gefahr, getötet zu werden. Zugleich gibt es trotz permanenter Lebensgefahr an bestimmten Frontabschnitten phasenweise nicht viel zu tun: Auch in der Nähe der schweren Kämpfe besteht das Leben oft lediglich aus dem Sitzen in Schützengräben und der Wiederholung von Routinen.

Verbote werden bereits diskutiert

"Die ukrainische Armee ist ein Teil der ukrainischen Gesellschaft. Zu sagen, dass die ganze Armee voller Online-Casino-Verlierer ist, ist wohl etwas übertrieben", urteilt Offizier und Militärpsychologe Andrij Kosentschuk im Gespräch mit der ukrainischen Redaktion von Radio Free Europe/Radio Liberty. "Dem Problem auszuweichen und zu sagen, dass bei uns alles in Ordnung ist, wäre auch nicht richtig."

Prinzipiell gefalle ihm die Idee, Glücksspiele für Soldaten zu verbieten, sagte Kosentschuk. Er sei sich aber unsicher, ob es rechtlich möglich wäre, ein solches Verbot auszusprechen. Zudem würde ein Verbot die Branche nur noch stärker in den Bereich der Schattenwirtschaft führten. Ohnehin sind viele ausländische Online-Angebote auf den ukrainischen Markt gerichtet, die in der Ukraine offiziell nicht registriert sind und deren Spuren sogar teilsweise nach Russland führen. Sie werden zwar regelmäßig blockiert, erscheinen aber unter anderen Webadressen immer wieder neu. Insgesamt würde Kosentschuk am liebsten eine Begrenzung der Höhe der Gewinne und Verluste sowie der Häufigkeit der Spielversuche befürworten.

Laut dem Parlamentsabgeordneten Jaroslaw Schelesnjak von der Oppositionsfraktion "Stimme", der stellvertretender Vorsitzende des zuständigen Finanzausschusses ist und sich mit dem Thema schon länger beschäftigt, gibt es durchaus die technische Möglichkeit, die Bankkonten der Soldaten, auf die sie ihre Gehälter bekommen, für entsprechende Transaktionscodes für Glücksspiele zu sperren. Das würde zwar das Problem nicht vollständig lösen, weil man nicht ausschließen könnte, dass sie mit Karten ihrer Freunde und Bekannten zahlen. Es würde den Prozess aber komplizierter machen.

Steuereinnahmen in Höhe von 250 Millionen Euro

Außerdem wäre denkbar, Kommandeuren das Recht zu geben, ihre Soldaten auf das sogenannte Register der pathologischen Spieler zu setzen. Bisher können dies nur engste Verwandte tun. Ein solches Register gibt es in der Ukraine seit 2020, als Glücksspiele erstmals legalisiert wurden. Personen, die auf diese Liste gesetzt werden, wird Zutritt zu offiziell registrierten Off- und Online-Casinos verweigert.

Die letztere Veränderung unterstützt auch Iwan Rudyj, Chef der Regulierungskommission für Glücksspiel und Lotterien (KRAIL). Ein Verbot der Glücksspiele für Soldaten hält er für rechtswidrig, weil es gegen Verfassungsprinzipien verstoßen würde. Wie lange es KRAIL aber überhaupt noch geben wird, ist aktuell eine offene Frage. Am 4. April unterstützte der Finanzausschuss der Werchowna Rada einstimmig einen Gesetzentwurf, der die Liquidierung der Kommission und die Übergabe ihrer Befugnisse an das Digitalministerium vorsieht. Wann im Parlament darüber abstimmt, ist noch unklar.

Glücksspiele insgesamt zu verbieten, geht für die Ukraine aktuell zu weit, weil das Land sonst massive Steuereinnahmen verlieren würde, die derzeit in die Landesverteidigung fließen. Dem Finanzexperten Schelesnjak zufolge hat die Branche im vergangenen Jahr 51 Mal mehr Steuern bezahlt als 2021. Damals, kurz nach der Legalisierung, wurde allerdings noch massive Steuerhinterziehung betrieben. Es geht um rund 250 Millionen Euro, die im vorigen Jahr in die Staatskasse gezahlt wurden. Der Stimme-Abgeordnete glaubt jedoch, dass die Branche weiterhin nur rund 75 Prozent der Steuer einzahlt, die sie hätte zahlen sollen. Dies müsse dringend verändert werden, sagte er im ukrainischen Radio NV.

Quelle: ntv.de

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