"Täuschung und Schwerpunkt" Startet Kiew schon bald eine dritte Gegenoffensive?
13.09.2022, 19:26 Uhr
Ukrainische Soldaten bei ihrem Vorstoß in der Region Charkiw.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Mit einer Überraschungstaktik und schnellen Verbänden gelingt Kiew in Charkiw der Durchbruch. Schon jetzt nehmen ukrainische Einheiten weitere Regionen ins Visier. Beobachter halten eine dritte Offensive für möglich. In der Region Donezk sammelt Kiew bereits Truppen - und räumt wohl Minenfelder.
Mit einem militärischen Schachzug haben hochmobile ukrainische Verbände die Dynamik des russischen Krieges gegen ihr Land vorerst gedreht. Eine "Mischung aus Täuschung und Schwerpunkt" bescheinigt der ranghöchste deutsche Soldat, Generalinspekteur Eberhard Zorn, den ukrainischen Kräften. Sie seien nun "wirklich in herausragender Weise in der Lage", agil zu agieren, Führungssysteme einzusetzen und im "Gefecht der verbundenen Waffen" ihre Systeme abgestimmt einzusetzen, macht er in Berlin bei einem Auftritt bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik deutlich. "Täuschung war in dem Fall im Süden, Schwerpunkt war im Norden", sagt Zorn zur beobachteten Strategie, mit der die Ukrainer russische Verbände im Nordosten in die Flucht schlugen.
Die ukrainischen Truppen fassen bereits weitere Gebiete ins Auge, nachdem sie im Charkiwer Gebiet eine Fläche von etwa der doppelten Größe des Saarlandes befreit haben. Der Militärgouverneur des komplett besetzten benachbarten Luhansker Gebiets, Serhij Hajdaj, hält einen Vorstoß nach Swatowo und Kreminna und anschließend die komplette Befreiung der östlichen Provinz für möglich. Dafür müssten die ukrainischen Einheiten aber zuerst die russische Verteidigungslinie entlang der Flüsse Oskil und Siwerskyj Donez überwinden. Erste Anzeichen gibt es, dass dieser Plan bereits verfolgt wird.
Beobachter ukrainischer Truppenkonzentrationen bei Wuhledar in der Region Donezk und an anderen Frontabschnitten nähren zudem Gerüchte über einen bevorstehenden ukrainischen Vorstoß in einem dritten Frontbereich. Russische Militärblogger berichten, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre eigenen Minenfelder bei Wuhledar räumen - möglicherweise für eine Attacke. Von Experten wird nicht einmal mehr ein Angriff auf die Separatistenhochburg Donezk ausgeschlossen. Spekuliert wird auch über einen Vorstoß Richtung Mariupol. Von Wuhledar bis zur besetzten Hafenstadt sind es etwa 100 Kilometer.
Taktik der "tausend Nadelstiche"
Parallel dazu wird der Druck auf die russischen Truppen im südukrainischen Gebiet Cherson aufrechterhalten. Die russische Armee musste mehrere Dörfer aufgeben und die Front nähert sich langsam, aber sicher der Provinzhauptstadt Cherson und dem Fluss Dnipro. Aufgrund des Munitionsmangels und einer schlechten Moral halten es einige Beobachter für möglich, dass die Russen schon bald das rechte westliche Dnipro-Ufer räumen könnten.
Zusätzlich dazu setzt die ukrainische Armee ihre Taktik der "tausend Nadelstiche" fort: Sabotageakte im grenznahen russischen Gebiet auf Stromleitungen, Eisenbahnlinien und andere Infrastrukturobjekte. Dazu hochpräzise Raketenangriffe auf Munitionsdepots, Kasernen und Kommandozentralen selbst im tiefen russischen Hinterland und wie kürzlich bei Taganrog im Süden des Landes erhöhen die Verunsicherung.
Moskau habe Vorteil bei Hardware, aber nicht bei Moral
Moskau hingegen wirkt angeschlagen - das britische Verteidigungsministerium bewertet sogar russische Verbände von zentraler Bedeutung als geschwächt, wie die 1. Gardepanzerarmee, die zur Verteidigung der Hauptstadt Moskau bestimmt sei. Teile dieses Verbandes, der zu den prestigeträchtigsten des russischen Militärs gehöre, hätten sich in der vergangenen Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen. Nach den Verlusten werde Russland Jahre benötigen, um diese Fähigkeiten wieder aufzubauen.
Eine komplette Befreiung des ukrainischen Staatsgebiets einschließlich der Halbinsel Krim erschien noch vor kurzem als Fantasterei. Der Politikwissenschaftler Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält es jedoch für verfrüht, einen Wendepunkt auszurufen. Dass der russische Rückzug einer Flucht ähnele, lasse aber Schlüsse auf die Moral der Soldaten zu. "Vor diesem Hintergrund geht man nicht fehl in der Annahme, dass die eine oder andere Niederlage noch folgen wird." Russland habe eine Überlegenheit bei der "Hardware", aber bei den Soldaten erscheine der Wille zum Kampf geschwächt.
Quelle: ntv.de, jpe/dpa