Politik

Zwangsbegräbnis ohne Familie Türkei muss kurdische Eltern entschädigen

Zusammenprall von Kurden und türkischen Sicherheitskräfte in Siirte am Tag als Sibel und Nergiz begraben werden sollten.

Zusammenprall von Kurden und türkischen Sicherheitskräfte in Siirte am Tag als Sibel und Nergiz begraben werden sollten.

(Foto: REUTERS)

Sibel und Nergiz wurden in Eruh begraben, einer Kleinstadt im Südosten der Türkei. Die Eltern der jungen Kurdinnen waren nicht dabei. Eine religiöse Zeremonie blieb ihnen verwehrt. Jetzt muss die Türkei mehr als 25.000 Euro Entschädigung zahlen.

Als die Eltern ihre Töchter zu Grabe trugen, stoppte sie die Gendarmerie. Bevor sie am Friedhof im ostanatolischen Siirt ankamen, nahmen die Beamten ihnen die Särge ab und verschwanden mit den Überresten von Sibel und Nergiz. Einen Tag später, am 24. Januar 2005, begruben die türkischen Behörden sie selbst – in Eruh, ohne die übliche religiöse Zeremonie, in Abwesenheit von Mutter und Vater.

Mehr als 25.000 Euro Entschädigung muss die Türkei jetzt an die Eltern zahlen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einen Verstoß gegen Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt. Darin geht es um die Verpflichtung Privat- und Familienleben zu schützen. Für die Eltern ist das ein Stück Genugtuung. Auf eine ihrer politisch besonders brisanten Fragen gehen die Richter in ihrem Urteil allerdings kaum ein: Wurden ihre Kinder nur deshalb derart würdelos begraben, weil Ankara sie für Terroristen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält?

Mangelnder Respekt vor Leichen

Die Töchter, 24 und 15 Jahre alt, wurden im Januar 2005  in einer regnerischen Nacht in der Nähe von Berg Dschudi von türkischen Sicherheitskräften erschossen. Neben ihren Leichen lagen automatische Waffen im Matsch. Fingerabdrücke konnten die türkischen Behörden darauf nicht mehr entdecken. Sie stellten aber auch keine großen Anstrengungen an, weitere Beweise zu suchen. An den Händen der Töchter sowie drei weiterer Leichen junger Menschen, die in unmittelbarer Nähe lagen, hätten sich Schmauchspuren finden können, wenn sie die Waffen abgefeuert hätten. Die türkischen Behörden nahmen aber keine Proben. Der Zuständige Staatsanwalt begab sich nicht einmal zum Tatort, um die Leichen dort zu begutachten – angeblich aus Sicherheitsgründen. Er hielt auch eine Autopsie für unnötig. Er verließ sich auf die Aussagen der türkischen Soldaten, die am Einsatz dabei waren, bei dem Sibel und Nergiz erschossen wurden. Und die behaupteten, die jungen Frauen hätten zuerst das Feuer eröffnet. Für den Staatsanwaltschaft war die Sache früh klar: Er stufte Sibel und Nergiz als  PKK-Terroristen ein, die die Einheit des türkischen Staates gefährdeten. Und er hielt das Vorgehen der türkischen Soldaten für vollkommen angemessen.

Ein voreiliger Schluss, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits 2013 befand: Die Türkei wurde damals in einem ersten Verfahren wegen schlampiger Ermittlungen in dem Fall bereits zu hohen fünfstelligen Entschädigungszahlungen verurteilt. Die Eltern von Sibel und Nergiz beharren bis heute darauf, dass ihre Töchter weder PKK-Mitglieder noch bewaffnet gewesen seien. Sie werfen dem türkischen Staat überdies vor, den Leichen nicht den gebührenden Respekt gezollt zu haben, weil der zuständige Gouverneur die beiden jungen Frauen als Terroristen abgestempelt hatte.

Ob die türkischen Behörden, Sibel und Nergiz eine angemessene Beerdigung tatsächlich verwehrt haben, weil sie diese womöglich fälschlicherweise für Terroristen hielt, wird im Urteil des Gerichtshofs allerdings nicht weiter erörtert. Die Juristen in Straßburg stehen angesichts der zusehends prekären Menschenrechtslage in der Türkei vor einem Berg an Verfahren. Zum Jahresbeginn gab es rund 7500 anhängige Beschwerden gegen den türkischen Staat. Es ist üblich, dass nur der jeweils schwerwiegendste Verstoß tiefer geprüft wird. Im Falle von Sibel und Nergiz ist das aus Sicht der Richter offenbar Artikel 8.

Gouverneur pocht auf öffentliche Sicherheit

Als die Gendarmerie den Eltern von Sibel und Nergiz 2005 die Särge ihrer Töchter wegnahm, rechtfertigte der zuständige Gouverneur diesen Schritt mit gewalttätigen Ausschreitungen rund um die geplante Beerdigung in Siirt. Protestierende forderten dort angeblich, Sibel und Nergiz in einem Grab neben getöteten PKK-Kämpfern zu begraben. Es kam zu Tumulten mit den Sicherheitskräften und dem Friedhofspersonal. Menschen wurden verletzt. Der Gouverneur behauptete, er habe die Beerdigung in Siirt wegen der gefährdeten öffentlichen Sicherheit verhindern müssen. Bis heute ist allerdings umstritten, ob womöglich erst die konfiszierten Särge die Ausschreitungen ausgelöst haben, die auf dem Friedhof begannen und sich ausweiteten.

Die Straßburger Richter stufen die Reaktion des Governeurs so oder so als unverhältnismäßig ein. Die Behörden hätten zumindestens einen Kompromiss finden müssen, der das Recht auf Privat- und Familienleben besser schützt, so der Kern des Urteils. Und Kompromisse hätte es geben können. Die Eltern von Sibel und Nergiz bestanden nicht auf Siirt als Beerdigungsort, sie schlugen auch das nahegelegene Batman vor, wo sie Familie hatten. Der Governeur lehnte ab. Er hielt es auch nicht für nötig, die Anwesenheit der Eltern bei der kurzfristig von den Behörden anberaumten Beerdigung in Eruh zu ermöglichen.

Quelle: ntv.de

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