Östliche Partner enttäuscht Ukraine-Haltung kostet Deutschland Vertrauen
01.02.2022, 20:10 Uhr
Mehr Engagement im Ukrainekonflikt erwarten die ostmitteleuropäischen Länder von Deutschland.
(Foto: picture alliance / AA)
Die Politik der Bundesregierung in der aktuellen Ukraine-Krise sorgt bei den östlichen EU- und NATO-Partnern für Misstrauen. Diese könnten sich in der Sicherheitspolitik künftig lieber auf die USA verlassen als auf ihre europäischen Partner.
Deutschland dominiert diese Woche in Polen die Schlagzeilen. Bei einer Regierung, die gegenüber Deutschland nicht gerade freundlich eingestellt ist, nicht ungewöhnlich. Doch diesmal dominieren nicht polnische Reparationsforderungen für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg die Berichte, sondern der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. "Auf wessen Seite stehen die Deutschen", fragt das konservative Nachrichtenmagazin "Wprost" auf dem Cover seiner aktuellen Ausgabe. Das PiS-nahe Wochenmagazin "Sieci" wiederum titelt gleich vom "Deutschen Verrat".
Die Schlagzeilen geben die polnische Stimmungslage zur deutschen Politik in der aktuellen Ukraine-Krise wieder und zeigen, wie viel Vertrauen Deutschland gerade bei seinem östlichen Nachbarn verliert. "Ich erwarte von Deutschland kein Engagement in diesem Konflikt, wenn dies die Entscheidung der neuen Bundesregierung ist. Meiner Meinung nach begehen die Deutschen so einen großen Fehler. Aber wenn sie der Ukraine Hilfe verweigern, dann bitte ich sie es direkt zu sagen", erklärte der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit der spanischen Zeitung "El Mundo".
Kritische Töne sind jedoch nicht nur von den regierenden Nationalkonservativen zu vernehmen. Radosław Sikorski, ehemaliger Außenminister und heutiger Europaabgeordneter der oppositionellen Bürgerkoalition, betonte in den letzten Tagen mehrmals, dass die neue Bundesregierung für ihn eine "Enttäuschung" sei.
Sikorski ist der beste Beweis, wie viel Vertrauen Deutschland in den letzten Wochen auch bei jenen Kräften verspielt hat, die in Berlin eher einen Partner sehen. Noch 2011 erklärte der damalige polnische Chefdiplomat bei einer Rede in Berlin über Europa: "Mehr als die deutsche Macht, fürchte ich deutsche Untätigkeit." Heute fühlt er sich bestätigt und ist damit kein Einzelfall. Nicht besser klingen momentan die Kommentare in Prag und den Hauptstädten der baltischen Staaten.
Pipeline als Druckmittel gegen Nachbarn
Was nicht bedeutet, dass das Verhältnis der ostmitteleuropäischen Länder zu Deutschland in den vergangenen Jahren harmonisch war. Die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 stößt in der Region seit Jahren auf Unverständnis und Kritik, was von deutscher Politik größtenteils ignoriert wurde. Man hatte nicht nur Sorge, dass der Kreml die Einnahmen für militärische Zwecke nutzt oder durch die Pipeline Energielieferungen als politisches Druckmittel gegen seine Nachbarn einsetzt. Man fürchtete auch, dass der Kreml so vor allem Einfluss auf die deutsche Politik nehmen könnte.
Befürchtungen, die sich nun aus Sicht dieser Länder bestätigen. Und dafür sorgen die täglichen Meldungen aus Deutschland. Egal, ob die von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert getätigte Äußerung, dass man "Konflikte nicht herbeireden solle, um Projekte auf diesem Wege zu beerdigen, die einem schon immer ein Dorn im Auge waren", wurden zwischen Warschau und Tallinn, ebenso mit Unverständnis aufgenommen, wie das Veto der Bundesregierung gegenüber Estland, das Haubitzen aus alten NVA-Beständen an die Ukraine liefern wollte. Die Ankündigung Deutschlands, 5000 Schutzhelme an die Ukraine zu liefern, wirkte auf viele Ostmitteleuropäer daher nur noch wie ein schlechter Witz.
Das Misstrauen gilt jedoch nicht nur der neuen Ampelkoalition. Die Forderung des neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, wonach mögliche Sanktionen gegen Russland nicht das internationale Banken-Zahlungssystem Swift betreffen sollten, haben die östlichen Partner ebenso registriert, wie die Warnungen des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder vor Sanktionen gegen Nord Stream 2. Nicht vergessen hat man in Ostmitteleuropa auch, dass es ausgerechnet die Bundesregierung der CDU-Kanzlerin Merkel war, die kurz nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine, trotz aller Kritik den Bau von Nord Stream 2 genehmigte.
Von Berlin nicht ernstgenommen
Hinter dem nun offen gezeigten Misstrauen steckt aber mehr als nur Enttäuschung über die auch in Deutschland kritisierte Politik der Bundesregierung im Ukraine-Konflikt. Einerseits fühlt man die eigenen Sicherheitsinteressen von Berlin nicht ernstgenommen. Und die Staaten Ostmitteleuropas empfinden nicht nur den Aufmarsch der über 100.000 russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine als Gefahr, sondern auch die bereits im Dezember von Russland gestellten Forderungen an die USA und die NATO, in denen der Kreml unter anderem den Abzug von NATO-Truppen aus diesen östlichen Mitgliedsstaaten des Bündnisses verlangte.
Hinzu kommt die Geschichte der Länder. Die Bundesregierung begründet ihre aktuelle Politik zwar mit der historischen Verantwortung Deutschlands, doch zwischen Warschau und Tallinn hat man das Gefühl, dass diese historische Verantwortung nur gegenüber Russland gilt. Dass beispielsweise die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland 1940 als Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes für fünf Jahrzehnte ihre Unabhängigkeit verloren haben, scheint nach Ansicht der Ostmitteleuropäer für die deutsche Politik keine Rolle zu spielen.
Eine wichtige Rolle spielt bei dem Misstrauen auch der wirtschaftliche Aspekt. Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Litauen, Lettland und Estland haben zusammen zwar nur 70 Millionen Einwohner, sind aber für Deutschland ein sechsmal größerer Exportkunde als das 140 Millionen-Land Russland. 2020 verkaufte Deutschland laut dem Bundesstatistikamt nach Ostmitteleuropa Waren im Wert von fast 150 Milliarden Euro. Nach Russland waren es lediglich Produkte im Wert von 23 Milliarden Euro. Dazu sind mit der Slowakei und den baltischen Staaten gleich vier Länder der Region Mitglied der Eurozone. Es ist eine wirtschaftliche Bedeutung der Region für Deutschland, die nach Meinung der Ostmitteleuropäer durch die regelmäßigen deutschen Verweise auf den Handelspartner Russland nicht gewürdigt wird.
Das wachsende Misstrauen der östlichen EU- und NATO-Partner könnte langfristig weitreichende Folgen für die Europapolitik der Bundesregierung und die EU generell haben. So mag die im Koalitionsvertrag hervorgehobene Vision von einer föderalen Europäischen Union, die beispielsweise schon heute in Polen auf wenig Gegenliebe stößt, sehr ambitioniert sein. Sie dürfte aber bei den östlichen EU-Partnern bei der jetzigen Ostpolitik der Bundesregierung eher für Kopfschütteln sorgen. Die aktuellen Aussagen aus Deutschland sind für sie nur ein weiterer Beleg dafür, dass sie sich bei sicherheitspolitischen Fragen mehr auf die USA verlassen können als den EU-Partner Deutschland.
Quelle: ntv.de