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Fortschritt ja, Durchbruch nein Ukraine muss Meter für Meter blutig erkämpfen

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Mitte August besuchte der ukrainische Präsident Selenskyj Truppen in der Region Saporischschja.

Mitte August besuchte der ukrainische Präsident Selenskyj Truppen in der Region Saporischschja.

(Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU)

Lange konnte die Ukraine mit ihrer Offensive kaum etwas ausrichten. Robotyne ist nun ein kleiner Erfolg, der die Chance auf Größeres eröffnen könnte. Doch dafür werden die Truppen sehr hart kämpfen müssen.

Es sind Erfolge in Milligramm-Dosen, wenn etwa die Ukraine die Einnahme des Dorfes Robotyne meldet und Militärexperten analysieren, welche Bedeutung einem solchen Vorstoß zukommt. War Robotyne schon ein Teil der ersten Verteidigungslinie, oder haben die Truppen nur eine Vorpostenstellung eingenommen? Schafften die Ukrainer hier ein paar hundert Meter in dem ständigen "Vor und zurück" der Front, wo man ein Stück Boden gut macht, das man im Kampf des nächsten Tages gleich wieder abgibt? Oder eröffnet der Vorstoß in Robotyne den Truppen neue Möglichkeiten zum Vormarsch Richtung Süden, die sie vorher nicht hatten? Das zu begutachten, ist schwierig, zumal bei wenig verlässlicher Information von der Front. Entsprechend gehen die Experten-Meinungen derzeit auseinander.

"Aus gutem Grund sagen die Ukrainer selbst nicht, welche Tiefe sie bei der Einnahme von Robotyne erreicht haben", sagt der ehemalige Oberst und UN-Militärberater Wolfgang Richter. "Wir reden wohl bestenfalls von drei, vier oder fünf Kilometern Tiefe, und nun haben die ukrainischen Truppen laut eigener Aussage die Hauptverteidigungslinie erreicht. Sie haben nicht gesagt, sie hätten diese Linie bereits durchstoßen." Ähnlich bewertete der österreichische Oberst Markus Reisner die Lage für ntv.de Anfang der Woche. Auch er sieht die Ukrainer bislang nur mit einem "Fuß in der Tür".

Positiver schätzt Militärhistoriker Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations die Situation nach der Einnahme des Dorfes ein. Nach seinen Informationen bestand die Vorpostenlinie weiter nördlich und "nicht aus durchgehenden Bauwerken, sondern Minenfeldern mit verbunkerten Panzerabwehrstellungen". Robotyne hingegen gehöre schon zur ersten Verteidigungslinie.

Allzu linear sollte man sich eine Verteidigungslinie dabei nicht vorstellen und auch nicht statisch. "Sie stellt viel eher ein System aus Stellungen dar, die sich, falls die Position nicht mehr haltbar ist, auch in die Tiefe zurückziehen können", sagt Richter. Anschließend haben die verteidigenden Truppen immer noch die Chance, die Vorstöße des Gegners aus der Flanke heraus einzudämmen. Dazu können Minen aus größerer Entfernung verschossen werden, sodass eine angreifende Panzerkolonne sich mit Pech binnen von Minuten vor einem frisch entstandenen Minenfeld wiederfindet. Das ganze Stellungssystem entspricht eher einem Korridor als einer Linie. Dort ganz hindurchzustoßen, ist ein schwieriges Unterfangen.

Die jüngsten Meldungen von der Front sprechen von Kämpfen in direkter Nachbarschaft von Robotyne. Demnach versuchen die Ukrainer, ihren schmalen Vorstoß zu verbreitern, indem sie von dem eingenommenen Dorf aus in Richtung Westen den Nachbarort Kopani angreifen und in Richtung Osten versuchen, nach Werbowe vorzustoßen.

Wären die Truppen hier erfolgreich, könnten sie die Schneise, die sie in das umkämpfte Gebiet geschlagen haben, nach beiden Seiten zu einem Keil verbreitern. Die breitere Front würde es dem Gegner erschweren, die Ukrainer mittels Artillerie zu stoppen. Die Russen führen laut Frontberichten einen Gegenstoß von Süden her durch, aus Richtung der Ortschaft Nowoprokopiwka.

Schnelle Geländegewinne wird es nicht geben

Viele Analysen stimmen überein, dass die kommenden Tage die Kampfkraft der Ukrainer stark herausfordern werden. "Die Russen haben vier Regimenter Luftlandetruppen und eine Panzerbrigade in die Schlacht geworfen", sagt Gressel ntv.de. Schnelle Geländegewinne, wie man sie in der Herbstoffensive 2022 erlebt hat, scheinen jetzt unmöglich. Kiews Truppen werden um jeden Meter kämpfen müssen - sei es ein Meter Vorstoß in weiteres besetztes Gebiet, oder ein Meter, den die Russen versuchen, sich zurückzuholen.

Allerdings - der Aufwand könnte sich lohnen. 80 Kilometer südlich von Robotyne verläuft die M14, eine zentrale Verbindungsstraße im Süden der Ukraine, an einigen Passagen an der Küste des Asowschen Meeres entlangführend. Sie ist eine wichtige Achse zwischen Cherson, westlich gelegen, und Mariupol im Osten, über Melitopol und Berdjansk. Die Russen nutzen diese Straße, um ihren Nachschub zwischen den Städten zu organisieren.

"Wenn es den Ukrainern ganz konkret gelänge, von Robotyne aus noch weiter südlich bis nach Tokmak vorzustoßen", beschreibt Richter, "dann hätten sie weitere 20 Kilometer gewonnen und dort vielleicht schon Positionen, von denen aus sie mit HIMARS Raketenwerfern diese wichtige Straße, die M14, unter Feuer nehmen könnten."

Derzeit sind HIMARS-Attacken auf die Logistikachse noch nicht möglich, denn das System wird zum Schutz vor Gegenangriffen nur mit deutlichem Abstand zur Front genutzt. "Von den 70 Kilometern, die HIMARS an technischer Reichweite hat, muss man etwa zehn Kilometer Sicherheitsabstand abziehen, weil der Raketenwerfer von weiter hinten über die Front hinweg schießt." Die operative Reichweite beträgt entsprechend etwa 60 Kilometer, und das könnte knapp reichen bis zur M14.

Putin lässt sich von den Militärs nichts sagen

Ein lohnendes und offenbar auch realistisches Ziel, allerdings müsste den Ukrainern dazu eine von Beobachtern vermutete Erschöpfung der russischen Kräfte in die Hände spielen. Moskaus Truppen haben nämlich an mehreren Fronten zu kämpfen. Präsident Wladimir Putin besteht parallel zur Abwehr der ukrainischen Vorstöße auf eigenen Offensiven im Donbass.

In den Oblasten Donezk und Luhansk werden so wertvolle russische Kräfte verschlissen, die in der Defensive fehlen. "Hier gibt es Streit zwischen der militärischen Führung, die vor Ort gegen die Ukrainer kämpft, und der politischen Führung im Kreml", beschreibt es Gressel. Aus Sicht der Militärs sei die russische Armee derzeit gar nicht angriffsfähig. "Sie sollte sich erst einmal auf die Verteidigung konzentrieren, um die Ukraine abzunutzen und später in die Offensive zu gehen", so argumentieren die Militärs vor Ort.

Doch Putin lässt offenbar nicht mit sich reden, und das Schicksal des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin animiert die Kommandeure vermutlich nicht, dem Präsidenten allzu laut zu widersprechen. "Diese Verwerfungen und diese Blindheit könnten für die Ukrainer der größte Erfolgshelfer in der jetzigen Offensive sein".

Quelle: ntv.de

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