Reisners Blick auf die Front "Das leitet automatisch das Ende der Offensive ein"
28.08.2023, 20:12 Uhr Artikel anhören
Mit der Befreiung des Dorfs Robotyne im Zentralraum der Ukraine gelingt den Streitkräften ein wichtiger Vorstoß. Trotzdem spiele die Zeit den Ukrainern derzeit nicht in die Karten, sagt Oberst Markus Reisner. Schuld sei die bevorstehende Schlammperiode: "Das leitet automatisch das Ende der Offensive ein." Die USA machen der Ukraine daher zunehmend Druck - was den Ukrainern bitter aufstoße.
ntv.de: Herr Reisner, ukrainischen Streitkräften ist es gelungen, das Dorf Robotyne zu befreien. Sie sollen dort eine starke Verteidigungslinie der Russen durchbrochen haben. Kann man hier von einem Durchbruch der ersten Verteidigungslinie sprechen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Dazu ist es noch zu früh. Aber die ukrainische Seite versucht seit Mitte letzter Woche, mit allen verfügbaren Kräften dort vorzustoßen. Die Ukrainer haben bereits einen Fuß in der Tür, aber es ist ihnen nicht gelungen, sie so weit zu öffnen, um eintreten zu können. Die russische Linie, die von den Ukrainern übernommen wurde, ist die sogenannte Gefechtsvorpostenlinie und jetzt steht man an der Hauptverteidigungslinie. Damit ist die Tür gemeint, die man durchschreiten muss, um weiter im Süden in Richtung Tokmak anzugreifen.
Das Institute for the Study of War (ISW) sagt, dass die Hauptverteidigungslinie möglicherweise leichter zu durchbrechen ist, weil der Rückzug der Russen so schnell ging, dass man vermutet, dass dort nicht so viele Minenfelder verlegt sind. Stimmen Sie dem zu?
Während der Kämpfe in der Gefechtsvorpostenlinie haben die Russen in den letzten 86 Tagen immer wieder neue Minenfelder entlang der Verteidigungslinien im Süden gelegt. Man kann also nicht davon ausgehen, dass dort weniger Minen verlegt wurden. In Expertenkreisen ist zudem umstritten, ob diese Verteidigungslinien tatsächlich dicht mit russischen Truppen besetzt sind oder nicht. Es gibt Argumente dafür, dass die russischen Truppen bereits in der Gefechtsvorpostenlinie abgenutzt wurden und weniger Truppen in der Tiefe zur Verfügung stehen. Es gibt aber auch Argumente, die dafür sprechen, dass die Russen sehr wohl in dieser ersten Verteidigungslinie, der sogenannten Surowikin-Linie, benannt nach einem russischen General, tatsächlich bereits präsent sind. Es wurden auch russische Reserven herangeholt, die vermutlich dort eingesetzt werden.
Ist das die 76. Garde-Luftsturm-Division, die aus dem Osten bei Kreminna in den Süden verlegt wurde?
Ja. Immer, wenn eine Situation brenzlig wird, setzen die Russen Fallschirmjägerverbände ein. Es gibt einige Luftlande- oder Fallschirmjägerdivisionen. Diese Kräfte werden in der Stärke von Regimentern bis Brigaden herangeholt, um dafür zu sorgen, dass das ukrainische Eintreten durch die Tür - also das weitere Ansetzen in Richtung der ersten Verteidigungslinie - abgewehrt wird.
Was macht die 76. Garde-Luftsturm-Division zu einem Eliteverband?
Die Luftlandeeinheiten der russischen Armee sind traditionell immer mit modernsten Geräten ausgestattet und haben auch besonders gut ausgebildete Soldaten. Man darf aber nicht vergessen, dass gerade diese Einheiten zu Beginn des Krieges enorm abgenutzt worden sind. Die genannte Division wurde zwar in den letzten Monaten aufgefrischt und ist wieder relativ gut aufgestellt, hat aber nicht mehr das gute Personal wie am Anfang. Aber die Russen versuchen, mit diesen Einheiten dem möglichen Durchbruch der Ukrainer etwas entgegenzusetzen.
Kann man davon ausgehen, dass es für die Ukrainer dadurch schwerer wird, die Verteidigungslinie zu durchbrechen?
Was wir hier sehen, ist, dass die Russen sehr wohl in der Lage sind, mobile Reserven zu verlegen. Die Ukrainer haben Probleme, das zu unterbinden. Dazu bräuchten sie entsprechende weitreichende Waffensysteme. Es ist nun die Frage, in welchem Umfang die Reservekräfte von Russland in diese erste Verteidigungslinie gebracht werden können.
Was braucht die Ukraine, um die Verlegung von russischen Reservekräften zu verhindern?
Eine ganze Reihe von unterschiedlichen Waffensystemen, die zusammenwirken müssen. Der ukrainische Verteidigungsminister, Oleksij Resnikow, hat in den letzten 24 Stunden mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass der Einsatz der F-16 sehr wohl etwas auf dem Schlachtfeld ändert. Das stimmt, und es ist bemerkenswert, denn in den letzten 18 Monaten haben wir immer wieder gehört, dass die Russen nicht die Luftherrschaft über die Ukraine hätten. Resnikow sagte zuletzt aber, dass die F-16 dazu dienen wird, die Vorherrschaft in der Luft der Russen zu beenden. Damit sind wir bei dem Punkt, dass wir uns oft die Dinge entgegen der Realität schönreden.
So wie bei der Luftherrschaft?
Ja. Die russische Seite ist sehr wohl in der Lage, der Ukraine durch den Einsatz ihrer Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge große Probleme zu bereiten. Die Ukraine braucht deshalb Kampfflugzeuge, um die Russen auf Distanz zu halten und auch taktische Fliegerabwehrsysteme, um einen Schutzschirm für die Truppen zu bilden, die in Richtung Süden vormarschieren.
Die ersten F-16-Jets kommen laut Resnikow aber erst im Frühjahr. Was bedeutet das für die derzeitige Offensive?
Man kann klar davon ausgehen, dass die F-16 für diese Offensive keinerlei Einfluss mehr haben werden. Eine derartige Offensive wird von vier Faktoren beeinflusst: Kraft, Raum, Zeit und Information. Kraft bedeutet für die Ukraine zurzeit, dass sie alle verfügbaren Kräfte des 9. und 19. Korps im Einsatz hat und damit versucht, durchzubrechen. Der Faktor Raum bedeutet, dass die Ukraine unter anderem auch auf Zuruf aus den USA versucht, ihre Kräfte zu bündeln, um eine geballte Faust zu bilden und durch diese Linien durchzubrechen. Der dritte Faktor ist Information. Das bedeutet, dass die Ukraine aufgrund des von den USA und der NATO gelieferten Lagebildes versucht, an der richtigen Stelle ihre Angriffe durchzuführen. Das sehen wir jetzt gerade bei diesem Vorstoß ostwärts von Robotyne.
Und der vierte Faktor?
Der Faktor Zeit ist für die Ukraine momentan von Nachteil, weil ihnen nur noch wenige Wochen zur Verfügung stehen. Denn die nächsten Herbstregenfälle, also die nächste Schlammperiode, genannt Rasputiza, steht vor der Tür und leitet automatisch das Ende dieser Offensive ein - ganz egal, wie sie zu diesem Zeitpunkt dasteht.
Wann wird die nächste Schlammperiode voraussichtlich einsetzen?
Traditionell leiten die ersten Regenfälle Ende September, Anfang Oktober diese Phase ein. Der Boden, der vorher sehr trocken war, verwandelt sich in Schlamm, was es sehr schwierig macht voranzuschreiten. Das ändert nichts an der Möglichkeit, die Truppen zu Fuß einzusetzen. Aber das bringt den großen Nachteil mit sich, dass sie nicht die Stoßkraft entwickeln können, wie Panzerverbände, die einen trockenen Boden brauchen.
An welchem Punkt wird die Offensive voraussichtlich gegen Ende des Jahres dastehen?
Unabhängig wie diese Offensive jetzt ausgeht, wird es die Aufgabe der Ukraine sein, sich zu konsolidieren. Man wird versuchen, selbst lokal in eine Verteidigung überzugehen, um den Russen nicht die Möglichkeit zu geben, selbst anzugreifen. Das heißt, der Winter wird eingeleitet werden durch eine Phase des Innehaltens und dem Versuch, sich für den nächsten Waffengang vorzubereiten, der dann möglicherweise im Frühjahr unter dem Einsatz der F-16 folgt.
Sprechen wir kurz über einen Bericht der "Washington Post", der in den vergangenen Tagen für viel Wirbel gesorgt hat. Demnach haben Journalisten vertrauliche Informationen veröffentlicht, wonach die USA offenbar die ukrainische Kriegsführung kritisiert haben. Was ist da genau vorgefallen?
In den vergangenen 14 Tagen haben amerikanische Leitmedien zunehmend die Frage gestellt: Hat die Offensive ihren Nutzen tatsächlich erfüllt? Oder macht die Ukraine hier ihre Sache nicht korrekt? Das hat dazu geführt, dass der ukrainische General Walerij Saluschnyj eine sehr emotionale Antwort gegeben hat. Er hat sinngemäß gesagt: "Ich verbitte mir, dass man mich belehrt, was wir zu tun haben. Wir stehen an der Front. Wir wissen am besten, was zu tun ist, und wir versuchen das auf unsere Art und Weise." Er hat mit dieser Aussage auch versucht, dass die Moral der eigenen Soldaten nicht negativ beeinflusst wird.
Was ist die Kritik der USA?
Dafür ist es zuerst interessant zu wissen, dass neue Zahlen bezüglich der Verluste an die Öffentlichkeit geraten sind. US-Nachrichtendienste gehen davon aus, dass die unglaubliche Zahl von knapp 500.000 Soldaten auf beiden Seiten getötet oder verwundet worden sind. Die Ukraine hat demnach circa 70.000 Gefallene und bis zu 120.000 Verwundete. Die Russen haben in etwa 120.000 Gefallene und bis zu 180.000 Verwundete. Diese Zahlen zeigen, dass es offensichtlich auch hinter den Kulissen in den USA rumort und man versucht, Druck auf die Ukraine auszuüben, rasch eine Entscheidung zu treffen.
Die USA haben laut dem Bericht auch den Einsatz von Drohnen kritisiert und der Ukraine gesagt, sie sollen sich nicht so sehr auf Drohnen verlassen, um das Gefechtsfeld auszuspähen.
Dem ist mit Vehemenz zu widersprechen und zeigt, dass offensichtlich einige Berater noch nicht verstanden haben, wie Kriege im 21. Jahrhundert geführt werden. Wir haben ein sogenanntes gläsernes Gefechtsfeld. Das heißt, dass jede Bewegung des jeweiligen anderen beobachtet werden kann, vor allem durch den Einsatz von Drohnen. Gerade diese Drohnen können Menschenleben retten. Es ist ein Unterschied, ob ich einen kleinen Trupp von Soldaten über mehrere Kilometer zur Aufklärung schicke, oder eine Drohne diese Aufklärung durchführen lasse.
Was wird den Ukrainern dann konkret von den USA vorgeworfen?
Zum Beispiel, dass eine Drohne nicht in der Lage ist, ein Minenfeld aufzuklären. Dafür muss ein Soldat selbst vor Ort einen Blick ins Gelände werfen, um das zu sehen. Aber das redet sich natürlich leicht aus der Distanz. Man darf nicht vergessen, dass die Soldaten hier Unglaubliches durchmachen und dass der Griff zur Drohne, wenn sie verfügbar ist, die erste Wahl ist, um das eigene Leben zu retten. Darum waren die Ukrainer hier sehr verstimmt und haben gesagt, jeder sei eingeladen, sich an der Front persönlich ein Bild zu machen, wie diese Kämpfe geführt werden.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de