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Aktion Sühnezeichen in Israel "Unsere Freiwilligen kommen alle vorerst nach Deutschland zurück"

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Noch immer warnen Sirenen vor neuen Angriffen, wie hier in Ashkelon.

Noch immer warnen Sirenen vor neuen Angriffen, wie hier in Ashkelon.

(Foto: REUTERS)

Seit 1961 ist die Aktion Sühnezeichen in Israel mit Freiwilligen im Einsatz. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Organisation dort einige Krisen überstanden, doch Geschäftsführerin Jutta Weduwen nennt die Hamas-Angriffe im Interview mit ntv.de nicht nur "unfassbares Grauen", sondern auch "in dieser Dimension einzigartig".

ntv.de: Wie viele Freiwillige sind für die Aktion Sühnezeichen gerade in Israel?

Jutta Weduwen: Wir haben 21 Freiwillige, die in Afula, Nahariya, Haifa, Herzliya, Tel Aviv und Jerusalem eingesetzt sind. Sie begleiten Shoah-Überlebende, unterstützen Menschen mit Behinderungen und arbeiten in Gedenkstätten.

Was hören Sie aus Israel? Wie geht es den Freiwilligen?

Wir sind seit Samstagmorgen mit allen Freiwilligen in ständigem Kontakt. Ich war gerade noch mal mit ihnen im Austausch. Sie sind ja noch nicht so lange in Israel. Die meisten sind sehr beunruhigt, weil sie eine solche Situation mit Raketen und Sirenen nicht kennen. Es hat heute Morgen eine Empfehlung des Bundesfamilienministeriums gegeben, das für die Förderung von Freiwilligenprogrammen zuständig ist, alle Freiwilligen zurückzurufen. Und auch unsere Freiwilligen kommen alle jetzt vorerst nach Deutschland zurück. Erleichternd ist, dass die Bundesregierung nun Sonderflüge einrichten wird.

Sie haben gesagt, die Freiwilligen kommen vorläufig zurück. Gehen Sie also davon aus, dass sie bald wieder zurückkehren können?

Wir hoffen vor allem für die Menschen in Israel, dass die Bedrohung für sie abnimmt. Für unsere Freiwilligen müssen wir abwarten, was nun kommt. Wir werden zusammen mit unseren Partnerorganisationen und der Botschaft vor Ort immer wieder die Sicherheitssituation bewerten und halten uns dabei an die Empfehlungen des Auswärtigen Amtes. Wir hoffen, dass sie bald nach Israel zurückkehren können.

Ihre Organisation ist seit 1961 in Israel. Gab es schon mal eine vergleichbare Situation?

Die Krisensituation 1991 ist vielleicht vergleichbar. Die Freiwilligen, die 1990 nach Israel gegangen waren, wurden von der Besetzung Kuwaits durch Saddam Hussein überrascht. Es hat dann ein Ultimatum gegeben: Bis zum 15. Januar sollte die Annexion Kuwaits zurückgenommen werden. Es bestand die Drohung, dass Saddam Hussein Israel angreifen würde, was dann ja auch passierte. Das Auswärtige Amt forderte Deutsche auf, das Land zu verlassen. Dem hat ASF Folge geleistet. Ich habe damals in Israel studiert und musste das Land für ein paar Wochen mit großem Bedauern verlassen. Doch die Freiwilligen sind auch wieder zurückgekehrt und haben ihren Freiwilligendienst fortgesetzt.

Die Intention von Aktion Sühnezeichen ist ja, über den Freiwilligendienst auch Friedensarbeit zu leisten. Das ist natürlich in so einer Kriegssituation besonders herausfordernd. Was tun Sie jetzt?

Wir stehen an der Seite Israels und sind unmissverständlich solidarisch mit Israel, ganz besonders jetzt in dieser Krisensituation, aber auch sonst. Wir setzen uns dafür ein, dass die Menschen in Israel in Sicherheit leben können, dass Israel auch weiterhin ein sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden ist. Ich gehe davon aus, dass die Freiwilligen wieder zurückkehren können und ihr Engagement für Erinnerung und Verständigung im Land fortsetzen. Sie leisten in der Tat einen Friedensdienst, indem sie an die Folgen der nationalsozialistischen Verfolgungsgeschichte erinnern, Shoah-Überlebenden und ihren Nachkommen begegnen und ein Zeichen der Sühne setzen, in dem sie praktisch Not lindern. Zum Beispiel unterstützen sie pflegebedürftige Menschen oder Menschen mit Behinderung. Sie setzen mit ihrem Freiwilligendienst ein ganz klares Zeichen gegen Antisemitismus, Israel-Feindlichkeit und für die Erinnerung an die Shoah. Das ist mehr denn je notwendig. Wir wollen jetzt vor allem mit unseren Partnern in Israel im Kontakt bleiben. Alle, die man in Israel spricht, sind in irgendeiner Weise betroffen. Fast alle kennen jemanden, der oder die getötet, verletzt oder entführt wurde, alle sind in großer Sorge oder Trauer. Wir zeigen klare Solidarität mit Israel und richten uns gegen Judenhass, der gerade auch wieder an vielen Orten auf die Straße getragen wird.

Wie gehen Sie da jetzt mit Ihren Freiwilligen um? Die haben wahrscheinlich Dinge gehört oder gesehen, die bisher in ihrer Welt nicht vorkamen.

Unsere Freiwilligen sind nicht im Süden eingesetzt. Das heißt, sie waren nicht dort, wo es diese grausamen Terroraktionen der Hamas gab. Dadurch, dass die Freiwilligen erst seit Kurzem da sind, haben sie noch keine israelischen Freundinnen oder Freunde, die unmittelbar von der Gewalt betroffen waren. Aber sie sprechen mit Menschen, die wiederum Menschen kennen, die die Gewalt erlebt haben. Die Terrorangriffe sind in dieser Dimension einzigartig, es ist ein unfassbares Grauen, das über Israel hereingebrochen ist.

Die Freiwilligen sehen die schrecklichen Berichte und erleben den Raketenalarm. Raketenbeschuss und Terrorwarnungen haben auch Freiwillige der vorhergehenden Jahrgänge erlebt. Ein Stück weit gewöhnen sich die Menschen im Land daran, das hören wir immer wieder von Freiwilligen. Wir wissen um die Risiken und bereiten die Freiwilligen sehr gut darauf vor. Trotzdem ist es eine Herausforderung.

Sie können wegen des Kriegsgeschehens jetzt schon keine Freiwilligenarbeit mehr in Russland, Belarus und der Ukraine leisten. Fürchten Sie, dass Israel vielleicht das nächste Land sein könnte, wo es dazu kommt?

Nein, das glaube ich nicht. Der Kriegszustand, der jetzt in Israel herrscht, ist nicht vergleichbar mit der Situation in der Ukraine. Ich bin keine Militärexpertin und kann keine Prognosen darüber abgeben. Aber die Arbeit, die wir machen, die wird auch in drei Wochen, in einem halben Jahr oder in einem Jahr weiter notwendig sein. Mit Holocaustüberlebenden zu arbeiten, mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, gegen Antisemitismus zu arbeiten und sich an einem Ort wie der Gedenkstätte Yad Vashem für Erinnerung starkzumachen – das sind alles Aufgaben, die notwendiger denn je sind. Israel hat eine starke Zivilgesellschaft, die auch in den Protesten gegen die Justizreform auf die Straße gegangen ist und die jetzt zusammensteht. Unsere Freiwilligen und wir wollen weiter mit unseren Partnern vor Ort da sein. Bis dahin bleiben wir in engem Kontakt und setzen uns auch hier in der deutschen Öffentlichkeit gegen jeden Antisemitismus und die Relativierung dieser Terrorakte ein.

Mit Jutta Weduwen sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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