Politik

Im Freiwilligendienst in Israel "Wir haben unsere Schuhe nicht mehr ausgezogen"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Im Treppenhaus warten die Nachbarinnen und Nachbarn gemeinsam den Alarm ab.

Im Treppenhaus warten die Nachbarinnen und Nachbarn gemeinsam den Alarm ab.

(Foto: privat)

Für Mie Volke hat in Israel gerade ein neuer Lebensabschnitt begonnen, sie macht seit vier Wochen einen Freiwilligendienst für die Aktion Sühnezeichen. Sie engagiert sich in einem multikulturellen Kindergarten und einem Sozialprojekt. Dann unternimmt die Hamas blutige Angriffe in Israel.

ntv.de: Wie haben Sie die letzten 24 Stunden erlebt?

Mie Volke: Ich wurde morgens von meiner Mitbewohnerin aufgeweckt, die mich gefragt hat, ob das jetzt Bombenalarm ist. Man hat es in der Ferne gehört. Instinktiv habe ich gesagt: "Bestimmt nicht." Bis ich die Raketen-Meldung auf mein Handy bekommen habe. Wir sind dann ins Treppenhaus gegangen, weil das der sichere Ort im Haus ist. Seitdem hat sich mein Zustand hier mehrmals verändert.

Inwiefern?

Als es anfing, bekamen wir die Meldungen in Echtzeit. Wir wussten erstmal nur, was passiert im ganz konkreten Sinne. Städte in Israel werden mit Raketen angegriffen. Wir hatten noch keinen Kontext und mussten erst mal warten, bis wir überhaupt Zugriff auf Medien hatten, die das ein bisschen erklärt haben. Die ersten Stunden bestanden wirklich nur daraus, immer wieder zwischen der Wohnung und dem Treppenhaus hin und her zu laufen und die wichtigsten Dinge zusammenzusuchen. Wir haben unsere Schuhe nicht mehr ausgezogen, weil das bedeutet hätte, dass wir nicht bereit sind, im Zweifelsfall evakuiert zu werden.

Wann war Ihnen genau klar, dass das jetzt wirklich Krieg ist?

Das war mir klar, als mich gestern Abend meine Arbeitgeberin angerufen hat, um mit mir über die Lage zu sprechen. Sie lebt auch hier in Tel Aviv. Sie sagte das dann in dem ganz konkreten Satz: "Es ist jetzt Krieg, das musst du verstehen." Das war der Punkt, wo ich realisiert habe, dass es eben nicht nur einzuordnen ist in diese Angriffe, die ja immer wieder gegen Israel gefahren werden, sondern dass es in einem größeren Kontext steht und wahrscheinlich auch so schnell nicht vorbeigeht.

Wo genau sind Sie?

Wir sind in Tel Aviv-Jaffa, Neve Ofer heißt das Viertel. Uns wird immer gesagt, das ist das ärmere Viertel von Tel Aviv, in dem auch viele arabische Israelis leben. Allerdings sind wir relativ am Rand, in einer Hochhaussiedlung.

Wie sind denn jetzt gerade die Vorgaben? Dürfen Sie das Haus verlassen?

Das weiß ich nicht genau, weil wir Informationen von ganz vielen verschiedenen Seiten bekommen. Aktion Sühnezeichen, die Organisation, mit der ich meinen Freiwilligendienst mache, hat eine Landesbeauftragte hier vor Ort. Zusammen mit der Geschäftsführung steht sie in engem Austausch mit uns Freiwilligen und unseren Familien. In zwei Vorbereitungsseminaren haben wir besprochen, wie der Ablauf und wer die Ansprechpersonen in einer solchen Lage sind. Konkret wird nun aktuell geprüft, wie sich die Lage entwickelt und in gemeinsamen Gesprächsrunden besprechen wir, wie es uns gerade damit geht. Wir halten uns an die Informationen vom Auswärtigen Amt. Gestern Abend war zum Beispiel Stufe Orange. Das bedeutet, und ich glaube, es ist immer noch so, dass wir das Haus nur zum Einkaufen, also nur, wenn es wirklich notwendig ist, verlassen sollten. Wir haben das Haus also noch nicht verlassen und überlegen jetzt gerade, was wir machen, weil wir einkaufen gehen müssen.

Was bekommen Sie jetzt konkret von dem Kriegsgeschehen mit?

Was wir konstant hören, ist das Abwehrsystem, den Iron Dome, der die Raketen, die aus dem Gazastreifen kommen, abwehrt - wobei es jetzt relativ ruhig geworden ist. Die Busse fahren auch wieder. Gestern war es so, dass wir die Raketen sekündlich gehört haben. Das Knallen ließ sich nicht immer genau zuordnen. Aber es gibt eben dieses eine bestimmte Geräusch, das dazu führt, dass bei uns die Wände gewackelt und die Fenster geklirrt haben. Gestern waren kurz meine Ohren zu, diese Druckwellen spürt man körperlich. Die Raketenmeldungen haben wir alle auf dem Handy und inzwischen haben wir die so eingerichtet, dass wir die Meldungen nur bekommen, wenn es bei uns in der Nähe ist. Dazu kommen die Sirenen. Man hört manchmal die Sirenen aus den anderen Vierteln in Tel Aviv oder aus den umliegenden Städten. Und dann hört man irgendwann die Sirene auch direkt bei sich im Viertel. Das ist dann das Zeichen, dass man ins Treppenhaus oder in den Schutzraum gehen soll.

Wie lange brauchen Sie in den Schutzraum?

Wir sind im achten Stock und haben den Bunker unten im Haus. Dieser Bunker war aber den ganzen gestrigen Tag über abgeschlossen. Das bedeutet, unser Schutzraum war das Treppenhaus. Das ist in Israel aber auch gang und gäbe. Wir müssen auf jeden Fall zwei Stockwerke runter, weil ab dem sechsten Stockwerk die Treppenhäuser gesichert sind. Am sichersten ist es im zweiten Stock. Je nachdem, wie voll das Treppenhaus ist, ist das natürlich mehr oder weniger einfach zu erreichen. Das heißt, mit Sachen zusammensuchen und Schuhe anziehen brauchten wir die angepeilten anderthalb Minuten, um in das zweite Stockwerk zu kommen.

Dort kommen vermutlich mehrere Nachbarn zusammen. Wie ist dann die Stimmung?

Das hat sich über die verschiedenen Angriffe verändert. Am ersten Morgen kurz nach sechs saßen da ganz viele Leute in Schlafanzügen, die das fast als normal empfunden haben, weil es ja immer wieder Angriffe gibt. Beim zweiten, dritten, spätestens beim vierten Angriff wurden die Leute im Treppenhaus immer unruhiger. Alle guckten auf ihr Handy. Viele telefonierten. Gestern habe ich mich mit einer Frau unterhalten, die schon das Oberteil von ihrer Uniform anhatte, weil sie drauf und dran war, sich freiwillig zu melden. Es gibt Leute mit Hunden, die dann bellen, weil sie diese Geräusche hören. Ein Paar mit einem Säugling meinte, dass sie seit 15 Jahren hier in diesem Haus leben und es sei noch nie so schlimm gewesen. Der Unterschied zu uns ist, dass unsere Nachbarn alle Familie oder Freunde haben, die in akuter Gefahr sind.

Sie sind für den Freiwilligendienst gerade erst angekommen, Sie leben zu viert in einer WG. Wie sprechen Sie über die aktuelle Situation?

Man erwartet, dass sich etwas grundsätzlich verändert, wenn so etwas passiert. Das geschieht aber nicht. Was die Stimmung verändert ist, wenn wir Nachrichten von außen bekommen, also wenn uns unsere Eltern oder Freunde schreiben. Das bedeutet, wir wechseln uns damit ab, uns unsicher zu fühlen, je nachdem, wer gerade einen Anruf von zu Hause bekommen hat und die anderen drei sind dann da, um die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig haben wir jetzt gerade beschlossen, dass wir uns die Videos, die Hamas mit den Geiseln im Gazastreifen veröffentlicht, nicht ansehen. Da muss man sich echt zusammenreißen, es nicht zu tun, weil das 60 Kilometer von uns entfernt passiert. Aber wir haben schon ein paar Maßnahmen, die wir uns selbst gesetzt haben, damit das Klima in der WG nicht kippt und damit wir uns alle noch sicher fühlen.

Sie haben gesagt, Busse fahren inzwischen wieder. Gehen Sie schon wieder arbeiten?

In Tel Aviv haben uns alle unsere Arbeitsstellen heute freigegeben. Weiter nördlich arbeiten die anderen Freiwilligen regulär. Hier fahren die Busse zwar wieder, trotzdem sind immer noch sehr wenige Menschen auf den Straßen. Was unser Leben bestimmt, ist eher die Ungewissheit, weil sich alles innerhalb von wenigen Minuten verändern kann.

Gibt es den Gedanken, den Einsatz abzubrechen?

Den gibt es schon. Die Idee kommt aber eher von Eltern und Freunden. Ich bin entschlossen, zu bleiben. Wir nehmen die Meldungen vom Auswärtigen Amt als Leitplanke und schauen gemeinsam mit ASF, wie sich die Situation entwickelt, das ist auch eine persönliche Frage für uns einzelne Freiwillige. Wenn das Auswärtige Amt sagt, wir sollen ausreisen, reisen wir definitiv aus.

Mit Mie Volke sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen