Bericht zu Assange deckt auf Vergewaltigungsvorwürfe waren "konstruiert"
01.03.2020, 15:37 Uhr
Transparent von Assange-Unterstützern in London.
(Foto: REUTERS)
In London entscheidet ein Gericht, ob Wikileaks-Gründer Assange an die USA ausgeliefert wird, es drohen ihm 175 Jahre Haft. Ein UN-Berichterstatter deckte auf, wie Assange von Behörden demontiert wurde, mit einem konstruierten Vergewaltigungsvorwurf - "ein abgekartetes Spiel".
Zwei Männer greifen den Verletzten - einer die Schultern, einer die Beine. Sie tragen den kraftlos hängenden Körper des Reuters-Reporters um ihren Kleinbus herum und legen ihn hinein. Das Video, das die Bergung des verletzten Kriegsreporters aus einer Straße von Bagdad zeigt, stammt von der Bordkamera eines US-Kampfhubschraubers. Aus der Luft beobachtet sie, wie die Zivilisten versuchen, den Mann in den Kleinbus zu betten, in dem vorn zwei Kinder sitzen. Eine Funkverbindung rauscht. "Kann ich schießen?", fragt ein Soldat über Funk den Vorgesetzten. Wieder Rauschen. "Beantrage die Erlaubnis anzugreifen", sagt ein anderer. "Kommt schon, lasst uns schießen." Schließlich der Befehl: "Angreifen." Eine Explosion und Maschinengewehrsalven erschüttern den Boden. Der Van wird zur Seite geschleudert, die Männer brechen tot zusammen. Die Kinder werden schwer verletzt.
Ein Video namens "Kollateral-Mord"
Von diesem mutmaßlichen Kriegsverbrechen von US-Soldaten, das sie selbst filmten, wüsste die Öffentlichkeit vermutlich nichts, hätte es nicht die Enthüllungsplattform Wikileaks online gestellt. "Kollateral-Mord" nannte sie das Video. Als "Collateral damage" - "Begleitschaden" bezeichnete das US-Militär die unschuldig Getöteten in den Kriegen gegen den Irak und Afghanistan. Doch die Soldaten, deren Stimmen im Film zu hören sind und die dann bewusst auf wehrlose Retter und zwei Kinder feuern, wurden niemals angeklagt.
Vor Gericht steht aber seit Montag der Mann, der verhinderte, dass dieses Video in geheimen Militärarchiven versteckt blieb, weil er es auf Youtube stellte: Julian Assange, Gründer von Wikileaks. So wie dieses Video gibt es noch unzählige weitere Hinweise auf Verbrechen, auf Korruption, durch seine Enthüllungsplattform aufgedeckt. Die US-Justiz hat ihn in 18 Punkten angeklagt. Wird er in allen schuldig gesprochen, drohen Assange 175 Jahre Haft. Unter anderem wollen die USA Assange wegen Spionageverdachts den Prozess machen, aber dafür müssten sie ihn erst einmal haben. Das Londoner Gericht soll nun entscheiden, ob Großbritannien den Enthüller ausliefert.
Getrieben vom radikalen Willen zur Transparenz
Assange, Verfechter uneingeschränkter Transparenz, ist getrieben von einer Radikalität, die ihm in der Vergangenheit auch Kritik einbrachte. So hatte die Plattform Telegramme aus dem US-Außenministerium in ungeschwärzter Form geleakt. Partner-Redaktionen sahen darin eine Gefahr für Informanten, deren Namen für jedermann offen sichtbar waren - eine Kritik, der sich auch Whistleblower Edward Snowden anschloss.
Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 machte Wikileaks zehntausende E-Mails aus der Demokratischen Partei öffentlich, darunter viele aus dem Wahlkampf von Hillary Clinton. Es steht der Verdacht im Raum, dass russische Agenten den Enthüllern die Mails zuspielten. Assanges Team streitet das bis heute ab. "Ich liebe Wikileaks", verkündete Donald Trump damals noch in der Wahlkampfphase - und ging aus dem Duell mit Clinton als neuer Präsident der USA hervor.
Seit das Londoner Gericht über Assanges Schicksal verhandelt, protestieren Unterstützer dort gegen eine Auslieferung an die USA. 1000 Journalisten unterschrieben eine Online-Petition, auch deutsche Prominente wie der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und Ex-Außenminister Sigmar Gabriel setzen sich für den Whistleblower ein. Der Europarat warnt ebenfalls vor einer Auslieferung, die Anschuldigungen bezögen sich auf Tätigkeiten, "die das Wesen des investigativen Journalismus ausmachen".
Der Vorwurf lautet, Assange habe Menschenleben gefährdet
Die USA lassen sich vor Gericht von einem Anwalt vertreten. Die Spionage-Anklage ließ dieser unerwähnt, fokussierte sich auf den Vorwurf, Assange habe Menschenleben gefährdet, weil er sensible Daten seiner Informanten veröffentlichte. "Es ist klar, warum der Anwalt Assange nicht der Spionage bezichtigte - was Assange getan hat, ist keine Spionage", sagt der Direktor von Reporter ohne Grenzen, Christophe Deloire, der den Prozess im Londoner Gericht verfolgt. "Er könnte dafür gar keine Belege bringen."
Was Assanges Unterstützer von dem in den USA drohenden Gerichtsverfahren behaupten, nämlich dass es kein juristischer, sondern ein politischer Prozess sei, bekommt neuen Nachdruck, seit der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, den seit zehn Jahren andauernden Fall Julian Assange unter die Lupe genommen hat.
Aus dem Enthüller wird binnen Stunden der mutmaßliche Vergewaltiger
Assanges Bild in der Welt als Kämpfer für Transparenz wandelte sich 2010, als bekannt wurde, dass die schwedische Polizei wegen des Vorwurfs von Vergewaltigung gegen ihn ermittelte. Aussagen zweier Zeuginnen waren die Grundlage dafür. Was der UN-Mann Melzer nun offenlegte: Tatsächlich habe es seitens der Frauen niemals eine Anzeige wegen Vergewaltigung gegeben. Der Sex war einvernehmlich, jedoch ungeschützt. Sie wollten daher Assange im Nachhinein polizeilich zwingen lassen, einen HIV-Test zu machen.
Was sich vor neun Jahren in Schweden ereignete, liest sich wie eine krude Verschwörungstheorie und ist doch ein UN-Bericht: Die Anzeige einer der Frauen wird demnach durch Polizeibeamte umgeschrieben, ihre Unterschrift fehlt auf dem Dokument. Die beiden Frauen protestieren im Folgenden gegen die falsche Wiedergabe ihrer Aussagen. Doch der laut Melzer "konstruierte" Vergewaltigungsvorwurf ist da schon von der Staatsanwaltschaft an die Presse durchgestochen. Aus dem rigorosen Enthüller Assange wird binnen Stunden der mutmaßliche Vergewaltiger Assange. Der Wikileaks-Gründer erscheint einige Tage später auf der Polizeistation und macht eine Aussage, zu dem Zeitpunkt haben die Ermittler ihren Vergewaltigungsvorwurf schon wieder zurückgezogen.
Niemals wird Anklage erhoben, doch der Haftbefehl bleibt
Als er jedoch drei Wochen später Schweden verlässt, erlässt die Behörde gegen ihn einen Haftbefehl. Grundlage ist die umgedichtete Zeugenaussage, die von der Frau nicht unterschrieben wurde. Schweden ist nun per europäischem Haftbefehl hinter Assange her. Mehrfach bietet dieser an, nochmals zurückzukommen, um vor Ort auszusagen. Er verlangt jedoch die Zusicherung, dass man ihn nicht an die USA ausliefert, wo er eine Anklage fürchtet. Schweden verweigert eine solche Zusicherung, die "in der internationalen Praxis alltäglich" ist, wie UN-Ermittler Melzer dem Schweizer Magazin "Republik" erklärte.
In den Folgejahren halten die Skandinavier den Haftbefehl aufrecht, erheben aber niemals Anklage gegen Assange. Sechs Jahre lang dümpelt der Fall als Ermittlungsverfahren vor sich hin. Der Gesuchte ist unterdessen in die Botschaft Ecuadors geflohen. Vor dem Haus stehen Polizeibeamte, jederzeit bereit, ihn festzunehmen, sobald er einen Fuß vor die Tür setzt.
Schweden lehnt alle Angebote ab

Unterstützer von Assange befürchten, dass ihn in den USA kein fairer Prozess erwartet.
(Foto: REUTERS)
Assanges Anwälte bieten weiter eine Aussage in Schweden zu seinen Bedingungen an. Sie bieten eine Aussage in London vor schwedischen Beamten an, sie bieten eine Aussage per Videoschaltung an. Alles lehnt die schwedische Justiz ab, obwohl ein Kooperationsabkommen genau diese Möglichkeiten vorsieht. "Das wurde in jenem Zeitraum zwischen Schweden und England in 44 anderen Verfahren so gemacht", erläuterte Melzer in "Republik". "Nur bei Julian Assange hat Schweden darauf bestanden, es sei essenziell, dass er persönlich erscheine."
Über sieben Jahre verschanzt sich Assange in der Botschaft, dann hebt Ecuador sein Asyl auf. Mit seiner Flucht dorthin hat er gegen Kautionsauflagen verstoßen. In der Regel verhängen britische Gerichte in einem solchen Fall ein Bußgeld, sagt Melzer. Assange wird zu 50 Wochen Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt, isoliert. "Psychologische Folter" nennt der UN-Mann das Vorgehen gegen Julian Assange. Was Wikileaks getan habe, bedrohe die politischen Eliten in den USA, England, Frankreich und Russland gleichermaßen, so Melzer. Was den Schluss nahelegt: Das Jahre lange Verfahren hatte genau ein Ziel: Assange zu demontieren. Melzer nennt es "ein abgekartetes Spiel".
Hinter Glas im Gericht, Papiere auf den Knien
Bei der Londoner Anhörung nun sah Assange besser, gepflegter aus als bei seiner Festnahme im vergangenen April. Allerdings "wirkte er sehr erschöpft, sehr viel älter als 48 Jahre", sagt Prozessbeobachter Deloire. "Er war durch eine Glasscheibe vom Gericht getrennt, wie ein Schwerverbrecher. Er hatte die Papiere zu seiner Verteidigung auf den Knien und hat darin gelesen." Für ein weltweit beachtetes Verfahren hat die britische Justiz einen Saal mit 24 Sitzplätzen für Publikum ausgewählt.
"Für die Öffentlichkeit wurde es irgendwann schwierig, Assange zu beurteilen. Die Frage war: Magst du Assange oder nicht?", sagt Christophe Deloire. Dabei gehe es darum gar nicht, sondern die Frage müsse sein: Hat Assange zur Aufklärung beigetragen? "Und da ist die Antwort: Absolut, ja. Das ist der wirkliche Grund, weshalb er strafrechtlich verfolgt wird. Und das macht dieses Verfahren so gefährlich."
Quelle: ntv.de