Politik

Lukaschenko verliert die Provinz Was die Belarus-Proteste vom Maidan unterscheidet

Protest in Hrodna am 20. August.

Protest in Hrodna am 20. August.

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Seit Wochen protestieren die Menschen in der belarussischen Hauptstadt Minsk gegen den Autokraten Alexander Lukaschenko. Aber wie ist die Lage in der Provinz? Spielt die Opposition dort auch eine Rolle?

In der belarussischen Hauptstadt Minsk gehen die größten Proteste in der Geschichte des Landes weiter. Am vergangenen Sonntag haben trotz des schlechten Wetters wieder mehr als 100.000 Menschen gegen den fragwürdigen Sieg des Autokraten Alexander Lukaschenko und die Polizeigewalt demonstriert. Doch obwohl die Opposition diesmal dazu aufrief, aus den Regionen nach Minsk zu kommen, haben sich Tausende in allen regionalen Zentren, darunter in Hrodna, Mahiljou, Brest, Wizebsk und Homel, bei oft strömendem Regen versammelt.

Die Opposition scheint in Minsk mit seinen rund zwei Millionen Einwohnern die beispiellose Unterstützung zu haben. Doch was die Proteste in Belarus etwa von der Maidan-Revolution 2014 in der Ukraine unterscheidet, die sich vor allem am Unabhängigkeitsplatz in Kiew konzentrierte, ist die große Rolle der Regionen. Anders als die Ukraine war das Land nie in Ost und West geteilt, obwohl es auch kein Zufall ist, dass die nach Minsk größten Proteste in Hrodna und Brest mit jeweils etwa 350.000 Einwohnern an der westlichen Grenze des Landes stattfinden. Protestiert wird auch in viel kleineren Städten, oft erstmals in deren Geschichte.

Das kommt nicht von ungefähr. "Das Protestpotenzial in kleinen Städten ist nicht geringer als in Minsk", meint etwa der belarussische Politologe und Historiker Walerij Karbalewitsch. "In den Dörfern, wo die ältere Bevölkerung wohnt, ist die Unterstützung für Lukaschenko noch groß. Dort wird das Internet kaum benutzt. In den Kleinstädten hat man dagegen schlicht keine Arbeit. Das sind sehr depressive Orte." Deswegen hätten die Menschen dort entweder das Problem, über die Runden zu kommen, oder sie würden ihr Geld in Russland oder in den anderen Nachbarstaaten verdienen.

Gerade diese Menschen wurden 2015 von Lukaschenkos Erlass gegen die sogenannten Sozialschmarotzer hart getroffen. Diesem Dekret zufolge mussten Belarussen, die länger als sechs Monate pro Jahr offiziell arbeitslos waren, für öffentliche Güter zahlen - umgerechnet rund 200 Euro im Jahr. Anfang 2017 löste diese Regelung heftige Proteste vor allem in den Regionen aus. Letztlich musste die Regierung größtenteils zurückrudern. "Das war der erste Protest, der nicht von Minsk ausging", betont der belarussische Politologe Pawel Ussow vom Zentrum für politische Analyse und Prognose in Warschau. "Damals haben sich die Menschen vor Ort selbst organisiert, ohne auf die politische Opposition zu blicken. Die idiotische Entscheidung war schon Grund genug, um zu protestieren. Dadurch sind auch die lokalen Blogger zum ersten Mal sichtbar geworden. Das Internet als Kommunikationsmedium erreichte auf der regionalen Ebene eine neue Stufe."

In der Provinz hat es angefangen

Genau das war ein Wendepunkt mit Blick auf die Proteste des Jahres 2020. Denn mit Sergej Tichanowskij, dem verhafteten Mann der späteren Lukaschenko-Herausforderin Swetlana Tichanowskaja, sprach ein beliebter Videoblogger den Menschen aus der Provinz aus der Seele. "Tichanowskijs Blog 'Land zum Leben' war besonders in den Kleinstädten erfolgreich. Er ist dort schnell sehr bekannt geworden", sagt Karbalewitsch. Tichanowskij, der ursprünglich selbst kandidieren wollte, fuhr quer durch das Land und hörte sich die Meinungen des Volkes an. Außer einer Abwahl des Präsidenten hatte er keine konkreten Lösungen parat, doch alleine die Chance, gehört zu werden, inspirierte die Menschen. "Deswegen wurde Tichanowskij auch als Erster verhaftet", vermutet Ussow. "Genauso wie Lukaschenko positionierte er sich als einfacher Mann aus dem Volk. Das fanden die Menschen glaubwürdig und Lukaschenko gefährlich."

Hinzu kam die fragwürdige Art und Weise, wie die Corona-Pandemie in Städten wie Wizebsk, wo ein größerer Ausbruch stattfand, behandelt wurde. Nämlich wurde diese größtenteils ignoriert. Die Einwohner mussten sich oft selbst organisieren, um den Ärzten zu helfen. Das habe die Akzeptanz der Staatspolitik untergraben. Der Oppositionsaktivist Ruslan Ignatowitsch sieht noch weitere Gründe für die aktuelle Entwicklung: "Das Lukaschenko-Regime hat die Landwirtschaft systematisch zugunsten der staatlichen Unternehmen und Milchfabriken getötet. Jedes Jahr wurde irgendwo ein Ausbruch von Pest oder Schweinegrippe registriert. Die Menschen mussten dann ihr gesamtes Vieh vernichten oder an die Polizei übergeben. Man investierte viel Zeit und Geld, am Ende wurde aber oft alles weggenommen."

Das führte wiederum dazu, dass sogar in den Dörfern die Unterstützung an Lukaschenko wankt. "Selbst das Dorf ist keine letzte Bastion für Lukaschenko mehr, auch dort ist es schwer", glaubt Ussow. Andrej M., ein belarussischer Journalist, meint zudem, die Ereignisse der ersten Tage nach der Wahl am 9. August, als die Sicherheitsbehörden rund 7000 Menschen verhafteten, hätten den Menschen in der Provinz einen neuen Schub gegeben: "Dreister Wahlbetrug und Übergrausamkeit der Polizei haben selbst frühere Lukaschenko-Befürworter zum Umdenken gebracht."

"Natürlich bleiben die großen Städte das Flaggschiff der Proteste", sagt Aktivist Ignatowitsch. Dennoch ist deren Unterstützung in den Regionen nicht kleinzureden. Einerseits sind die Oppositionsdemos nicht nur in Hrodna und Brest, wo mehrere Zehntausende auf die Straße gehen, sondern nahezu überall größer als die zentral organisierten Kundgebungen für Lukaschenko. Das sagt einiges über die Stimmung in einem Land, in dem freie Umfragen verboten sind. Andererseits ist es für die Sicherheitsbehörden schlicht viel komplizierter, die Lage unter Kontrolle zu halten, wenn sogar in kleinen Städten protestiert wird.

"Viele haben Lukaschenko 'Sascha drei Prozent' genannt, weil er in den Umfragen auf verschiedenen Internet-Seiten nur so viel Zustimmung bekommen hat. Geglaubt hat diesen Zahlen keiner, doch dann wurden selbst diese Umfragen verboten", sagt Andrej M., und fügt hinzu: "Jetzt scheint das mit den drei Prozent nah an die Realität zu sein." Das mag immer noch als Scherz gemeint sein. Doch inzwischen hört sich das viel ernster an.

Quelle: ntv.de

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