Familie in Kibbuz nahe Gaza Wie ein israelischer Großvater seine Familie vor den Terroristen rettete
08.10.2023, 13:57 Uhr Artikel anhören
Betonmauern und Schutzräume schützen auch den Kindergarten vor Raketeneinschlägen. Dem Großangriff vom Samstagmorgen hatten die Sicherheitsmaßnahmen von Nahal Oz jedoch kaum etwas entgegenzusetzen.
(Foto: REUTERS)
Hunderte Terroristen aus dem Gazastreifen überrennen nahe liegende Ortschaften, ermorden und entführen Zivilisten. Dass sie mit dem Schrecken davonkommen, hat eine Familie ihrem Großvater und zwei heldenhaften kleinen Mädchen zu verdanken.
Für Amir Tibon und seine Familie begann der Samstag mit Schrecken, aber keineswegs ungewöhnlich. Wie so oft holte der Alarm die Familie im Kibbuz Nahal Oz aus dem Schlaf. Der kleine Ort liegt nur wenige hundert Meter entfernt vom Grenzzaun, der Israel vom palästinensischen Gazastreifen trennt. An Raketenalarm sind die Bewohner der grenznahen Orte gewöhnt. Alle Häuser und öffentlichen Gebäude verfügen über Sicherheitsräume, die Schutz vor palästinensischen Raketen bieten. Aufgrund der geringen Entfernung zu Gaza bleiben den Menschen in dieser Region bei Alarm nur wenige Sekunden, um die verstärkten Räume aufzusuchen.
Doch nachdem sich Tibon und seine Frau mit ihren beiden kleinen Töchtern in den Schutzraum begeben haben, merken sie bald, dass dies kein gewöhnlicher Alarm ist. Denn statt einschlagender Raketen vernehmen sie ein anderes, weitaus beunruhigenderes Geräusch: Zunächst vom Grenzzaun und bald aus nächster Nähe hören sie Gewehrfeuer. "Die Terroristen waren innerhalb des Kibbuz, innerhalb unseres Viertels und zeitweise direkt vor unserem Fenster", berichtet Tibon, der als Journalist für israelische Zeitungen arbeitet wie auch für die "New York Times".
In der Whatsapp-Gruppe des Kibbuz berichten die Bewohner aus deren Schutzräumen in teils panischen Mitteilungen, wie Terroristen vor ihren Häusern auftauchen und in ihre Wohnungen eindringen. Aus Nachrichten von Journalistenkollegen erfährt Tibon schließlich, was passiert ist: In dem größten Terrorangriff ihrer Geschichte haben Hamas-Kämpfer den bislang als unüberwindbar geltenden Grenzzaun überrannt. Die israelischen Sicherheitskräfte sind völlig überrascht. Wie alle Orte in der Umgebung verfügt Nahal Oz über einen Sicherheitsdienst und Zäune, die den Ort gegen das Eindringen einzelner Terroristen schützen sollen.
Der Großvater macht sich auf den Weg
Doch gegen die Hunderte von Angreifern erweisen sich diese Schutzmaßnahmen als weitgehend wirkungslos. Die Terroristen dringen nicht nur nach Nahal Oz und in andere Orte ein, töten Sicherheitskräfte und Zivilisten und verschanzen sich mit Geiseln in Gebäuden. Sie überrennen auch mehrere Militärstützpunkte und erbeuten Waffen und Fahrzeuge.
Während Tibon und seine Familie im Schutzraum ihres Hauses die Nachrichten verfolgen, wird ihnen klar, dass es lange dauern wird, bis die israelische Armee zu ihnen vorrückt. Doch dann melden sich Tibons Eltern aus Tel Aviv. Mitten im Krieg hat sein Vater Noam Tibon beschlossen, sich aus der israelischen Metropole auf den Weg in Richtung Gazastreifen zu machen, um seine Familie zu befreien. Der 61-jährige pensionierte Generalmajor hat ehemalige Kameraden aus der Armee überredet, dass er ihre Kommandoeinheit, die Nahal Oz befreien soll, begleiten darf, wie die Zeitung weiter berichtet.
Mit Hindernissen gelingt dem hochdekorierten Ex-Offizier die Fahrt nach Süden über für Zivilisten inzwischen gesperrte Straßen, wie er dem Sender Channel 12 berichtet. Gemeinsam mit der Kommandoeinheit dringt er schließlich in den Kibbuz vor. Mehrere Terroristen werden getötet, während Noam Tibon mit den Soldaten vorrückt. Bis zum Haus seines Sohnes.
In ihrem Schutzraum hören Amir Tibon und seine Familie die Kämpfe wieder aufflammen. Dann schließlich klopft jemand an die Tür des Schutzraumes. Sowohl die Eltern als auch die beiden kleinen Mädchen bleiben regungslos, wie es ihnen eingeschärft wurde, um nicht die Aufmerksamkeit der Terroristen auf sich zu ziehen. Erst als sie die Stimme des Großvaters hören, öffnen sie erleichtert die Tür.
Israel vor "langem Kampf"
In einem Tweet lobt Amir Tibon seinen Vater als Helden, "der extra aus Tel Aviv kam, die Truppe zum Haus führte und dabei half, die Bösewichte zu töten." Helden seien aber auch seine Kinder, die "zehn Stunden lang, im Dunkeln" still ausgeharrt hätten.
Während der Tag, der als einer der schlimmsten in die israelische Geschichte eingehen wird, für die Familie Tibon glimpflich endet, kommt die Rettung für viele andere Israelis in der Region zu spät. Mehr als 350 Israelis, Soldaten wie Zivilisten, werden getötet, zahlreiche weitere verletzt und eine unbekannte Zahl entführt. In einigen Orten an der Grenze zum Gazastreifen wird auch am Tag danach noch gekämpft. Israels Regierung bereitet das Land auf einen "langen Kampf" vor.
Quelle: ntv.de, mbo