Politik

Thema Afghanistan im "Frühstart" "Wir leben in völliger Ungewissheit"

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Ellinor Zeino, Leiterin der Adenauer-Stiftung in Kabul, zählt zu den letzten Deutschen in Afghanistan - und will bleiben. "Aber wir können nicht lange im Voraus planen. Wir sind schon in den letzten Jahren auf Sicht gefahren, die Sicht wird immer kürzer."

Die Bundeswehr hat das Land schon verlassen, die Amerikaner folgen bis Ende des Monats. Nach 20 Jahren endet damit der Einsatz des Westens in Afghanistan. Zu den wenigen Deutschen, die noch die Stellung halten, zählt Ellinor Zeino, Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul.

"In Kabul ist die Lage noch relativ ruhig, wir hatten schon schlimmere Zeiten", sagt Zeino, die sich in der Skype-Schalte aus der afghanischen Hauptstadt in einem Büro zeigt, das in dieser Form auch in Berlin-Mitte stehen könnte. Bilder und Fähnchen sind geschmackvoll arrangiert, die Internet-Verbindung funktioniert stabil. "Wir leben aber in einer völligen politischen Ungewissheit, was in den nächsten Wochen und Monaten auf uns zukommen wird."

Zu den Gewissheiten zählt, dass die Taliban in den Provinzen auf dem Vormarsch sind und inzwischen die Hälfte des Landes kontrollieren. Erst vor wenigen Tagen haben sie sich zu einem Anschlag im Zentrum Kabuls bekannt, dem zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Inwieweit unter diesen Umständen noch Stiftungsarbeit möglich bleiben wird, kann auch Zeino nur vermuten. Solange die deutsche Botschaft vor Ort ist, gebe es auch eine gewisse Infrastruktur und Sicherheit. "Aber wir können nicht lange im Voraus planen. Wir sind schon in den letzten Jahren nur auf Sicht gefahren, und die Sicht wird immer kürzer."

"Es besteht das Risiko einer Fragmentierung des Landes"

Offiziell verkündet die NATO, "weiterhin an der Seite Afghanistans zu stehen, um die Fortschritte der letzten 20 Jahre zu wahren". Tatsächlich jedoch schwindet der Einfluss des Westens und reduziert sich, so Zeino, auf Finanzhilfen und Diplomatie. Die Nachbarstaaten stoßen in dieses Vakuum vor, China etwa hat erst kürzlich eine Delegation der Taliban freundlich empfangen. "Dabei geht es um die eigene Sicherheit, aber auch um ökonomische Interessen - für Handel, für Energierouten und Ressourcen."

Letzten Endes, sagt Zeino, versuchten alle Nachbarstaaten Afghanistans, strategische Kontakte zu den Taliban aufzubauen. Russland hege die Befürchtung, dass dschihadistische Gruppen, IS-Ableger und kriminelle Banden für Unruhen in den ehemaligen Sowjetrepubliken wie Tadschikistan und Usbekistan sorgen könnten und führe deshalb Manöver entlang der Grenze durch.

Das Problem ist, dass die Taliban, anders als von ihnen selbst gern dargestellt, keine homogene Einheit bilden, sagt die Vertreterin der Konrad-Adenauer-Stiftung. Insbesondere die jungen Kämpfer seien hasserfüllt und auf Rache aus. Das Land stehe an einem Wendepunkt. Zeino stellt nüchtern fest: "Es besteht das Risiko einer Fragmentierung des Landes - und von bürgerkriegsähnlichen Zuständen."

Zeino will bleiben, solange es geht

Der Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, hat den, wie er sagt, überstürzten Abzug der NATO kritisiert. Aber auch viele Afghanen sind enttäuscht, insbesondere von den Amerikanern. Man habe nicht damit gerechnet, sagt Zeino, dass die neugewählte Regierung Biden die Pläne von Trump übernimmt – und zwar "ohne nachzuverhandeln und ohne Bedingungen zu stellen".

Somit falle die Bilanz des Einsatzes sehr gemischt aus. "Auf vielen Gebieten ist man deutlich unter den Erwartungen geblieben, etwa bei der Korruptionsbekämpfung oder der Befähigung der nationalen Kräfte, die Sicherheit zu garantieren", sagt Zeino. "Viele Afghanen, vor allem auch die junge, städtische Mittelschicht, sieht aber auch Vorteile, die sie bekommen hat in den letzten 20 Jahren, etwa die politische Offenheit, die Debattenkultur, die Freiheiten."

Die große Frage ist, wie diese Errungenschaften in Zukunft bewahrt werden können. Die Konrad-Adenauer-Stiftung Afghanistan, sagt deren Leiterin, will weitermachen "unter den Bedingungen, die wir haben". Aber diese Bedingungen können sich täglich ändern.

Kurz nach dem Interview schickt Ellinor Zeino noch eine Nachricht per Whatsapp. Dawa Khan Menapal, der Direktor des Informationszentrums der afghanischen Regierung, ist in Kabul auf offener Straße erschossen worden. "Während unseres Gesprächs."

Quelle: ntv.de

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