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Starke Rede, offene Fragen Scholz will führen und geht dafür ins Risiko

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Deutschland, das ist an diesem Sonntag deutlich geworden, steht vor einer ungewissen Zukunft, so wie der Rest Europas.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Bundeskanzler reagiert auf den russischen Angriff auf die Ukraine mit einer Neuausrichtung der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik. Er geht damit ein Wagnis ein, auch weil die zahleichen Ankündigungen nicht minder große Fragen aufwerfen.

In der Sondersitzung des Deutschen Bundestags zum russischen Krieg gegen die Ukraine wurde viel Richtiges gesagt, das weitgehend Konsens zwischen Abgeordneten ist. Etwa, dass die Aggression allein von Wladimir Putin ausgeht. Oder dass die russische Führung nicht mit der russischen Bevölkerung gleichzusetzen ist. Dass nach diesem brutalen Überfall auf ein friedliches und souveränes Land im Herzen Kontinentaleuropas nichts mehr ist wie vorher. Eine "Zeitenwende" markiere der Überfall auf die Ukraine, konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede, von der jetzt schon klar ist, dass sie eine der wichtigsten seiner gerade erst begonnenen Kanzlerschaft bleiben wird. Und dann tat er etwas Unerwartetes: Er übernahm die Führung, die er im Bundestagswahlkampf versprochen hatte.

100 Milliarden Euro wolle die Bundesregierung in den kommenden Jahren zusätzlich in die Bundeswehr stecken. Deutschland werde geeignete Kampfjets für den Verbleib in der nuklearen Teilhabe ebenso anschaffen wie auch israelische Kampfdrohnen. Und: Deutschland liefert ab sofort Waffen an die Ukrainer, die für ihr eigenes Überleben und für ihre Freiheit russische Soldaten abwehren müssen - sie verletzen und töten. Vizekanzler Robert Habeck warf die Frage auf, ob Deutschland nun womöglich "lauter Waffen in einen dauerhaften Landkrieg" liefern werde. Er kennt die Antwort nicht, Scholz ebenso wenig.

Deutschland, das ist an diesem Sonntag deutlich geworden, steht vor einer ungewissen Zukunft, so wie der Rest Europas. Das Leid der Ukraine ist groß und muss gestoppt werden. Doch von Scholz' Rede geht ein noch größeres Signal aus: Deutschland und Europa müssen sich für einen langwierigen Konflikt mit einem neo-imperialistischen Russland rüsten - und zwar im Wortsinn. Die Fraktionen von SPD und Grünen, mit ihren vielen friedensbewegten, oft Armee-skeptischen Abgeordneten, wurden von der Ankündigung eines massiven Aufrüstungsprogramms der von ihnen getragenen Ampelregierung überrascht.

Zaudern war keine Option

Schon in der Frage der Waffenlieferungen mussten viele Mandatsträgerinnen alte Überzeugungen binnen Tagen über den Haufen werfen. Mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, haben viele Sozialdemokraten und Grüne bislang aus tiefer Überzeugung abgelehnt. Zumal die vielen Probleme der Bundeswehr nicht allein finanzieller Natur sind. Ein Großteil der Grünen-Basis will keine bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr. Und mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatte Scholz bislang einen besonders prominenten Gegner der atomaren Teilhabe in den eigenen Reihen.

Der sonst eher abwägende Scholz, der alle Entscheidungen dreimal durchdenkt und durch vier Abstimmungsschleifen schickt, bevor sie öffentlich werden, geht ins Wagnis. Ausgerechnet in Fragen von besonders großer Sprengkraft für die Ampel zwingt er die Abgeordneten nun, sich hinter ihm einzureihen. Dass sie das tun werden, ist nicht sicher.

Scholz hat mit seiner "Zeitenwende" in der deutschen Sicherheitspolitik Maßstäbe gesetzt, an denen ihn Öffentlichkeit und Opposition messen werden. Aber weil Nichtstun oder Zaudern keine Optionen waren, weil Deutschland in einem historischen Moment der allgemeinen Verunsicherung Führung brauchte, musste Scholz liefern. Was die starken Worte langfristig wert sind, wird die Zeit weisen.

Quelle: ntv.de

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