Interview mit Karl Schlögel "Putin ist ein von Obsessionen geplagter Mensch"
01.03.2022, 17:05 Uhr
"Er ist ein von Obsessionen geplagter Mensch, und wir lassen uns beeindrucken von der Schamlosigkeit und Dreistigkeit seines Auftritts", sagt der Historiker Karl Schlögel über Putin. Das Bild zeigt Putin bei dem Fernsehauftritt, mit dem er den Überfall auf die Ukraine ankündigte und zu rechtfertigen versuchte.
(Foto: picture alliance/dpa/Russian Presidential Press Service)
Putin wird alles unternehmen, was der Festigung seiner Macht, seiner Großmacht und seiner Diktatur dient, sagt der Historiker Karl Schlögel. Putins Vergleich des Angriffs auf die Ukraine mit der Bedrohung der Sowjetunion 1941 sei "eine völlig wahnsinnige Behauptung".
ntv.de: Glauben Sie, dass Putin sich durch Konzessionen hätte davon abhalten lassen, in die Ukraine einzumarschieren?
Karl Schlögel: Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß aber auch nicht, was Sie mit Konzessionen meinen. Es gab eine große Konzession, und die lautete, dass die NATO der Ukraine militärisch nicht beistehen würde.

Karl Schlögel ist einer der renommiertesten Osteuropa-Historiker Deutschlands. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
(Foto: imago images/Jürgen Heinrich)
In den vergangenen Jahren war immer wieder davon die Rede, dass Russland und Putin von der NATO gedemütigt worden seien, etwa als der damalige US-Präsident Obama Russland eine Regionalmacht nannte. Ist es Küchenpsychologie oder ein relevanter Faktor, wenn man diese Begebenheit in einen Zusammenhang zum Angriff auf die Ukraine bringt?
Es ist ein gewisser relevanter Faktor, dass Obama aus Ahnungslosigkeit und Taktlosigkeit diese Bemerkung gemacht hat. Aber damit das Verhalten einer nuklearen Großmacht erklären zu wollen, ist eine Projektion und ein geradezu kindischer Erklärungsversuch für die aggressive Politik von Putins Russland.
Sie haben sich wahrscheinlich die Rede von Putin am Montag vor einer Woche angesehen, in der er versuchte, seinen Anspruch auf die Ukraine zu erklären. Was halten Sie von seinen historischen Analysefähigkeiten?
Er spielt sich schon eine Weile als Geschichtskoryphäe auf. Was man als Historiker dazu sagen kann, ist dies: Er begreift offensichtlich nicht, was jeder einigermaßen gebildete Historiker weiß, nämlich dass der Zerfall von Imperien die Stunde der Geburt von Nationalstaaten war. Das ist ein Einmaleins der Geschichte der Neuzeit, vor allem des 19. Jahrhunderts. Putin versteht das nicht, er weigert sich, die Geschichte anzuerkennen. Insofern kann man ihn als Historiker nicht ernst nehmen. Die Frage ist eher, warum er diesen historischen Bombast und diese Rhetorik aufbaut.
Warum?
Es ist die Begleitmusik für seine Aggression gegen die Ukraine. Die ganze Rede mündet ein in eine Hassrede gegen die Ukraine, die er als eigenständige Nation und als eigenständigen Staat nicht anerkennt. In seiner zweiten Rede unmittelbar vor dem Angriff auf die Ukraine sprach er sogar von einer "Entnazifizierung" der Ukraine. Da merkt man, dass er überhaupt keine Ahnung hat, was die Ukraine heute ist. Es ist geradezu pervers, dass er von der Entnazifizierung eines Landes spricht, an deren Spitze mit Wolodymyr Selenskyj ein Präsident jüdischer Herkunft steht.
Der Vorwurf, die Ukraine werde von Nazis gesteuert, kommt aus der Zeit des Euromaidan. Damals gab es tatsächlich rechtsradikale Gruppierungen, auch Milizen. Welche Rolle spielen die in der heutigen Ukraine?
Sie haben eine Rolle gespielt, zum Teil, weil sie sich massiv eingesetzt haben gegen die Polizeigewalt des Janukowitsch-Regimes. Aber zu behaupten, es gebe in der Ukraine eine nationalistische Bewegung, ist völlig absurd und an den Haaren herbeigezogen. Das Bedauerliche ist, dass diese Propagandageschichte des Kreml in Deutschland jahrelang kultiviert wurde von Leuten, die selber nie in der Ukraine waren. Ich denke an eine Märchenerzählerin wie Sahra Wagenknecht und an Gregor Gysi, die von diesen Dingen nichts verstehen, aber behaupten, dass in der Ukraine Nationalisten und Faschisten die Oberhand hätten. Ich kann Ihnen sagen: Kiew ist für Juden sicherer als Berlin. Man kann gefahrlos mit Schläfenlocken und Kippa durch die Straßen von Kiew gehen, was in Berlin keineswegs so ist.
Putin hat in seiner Angriffsrede in der Nacht zu Donnerstag die Situation mit 1941 verglichen, mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. In seiner Darstellung hatte die Sowjetunion damals versucht, Nazideutschland zu besänftigen, statt sich auf den Krieg vorzubereiten. Was ist die Botschaft dieser historischen Parallele?
Das ist natürlich eine völlig wahnsinnige Behauptung. So zu tun, als sei Russland von der Ukraine bedroht worden, das ist dieselbe Geschichte wie der Vorwurf, in der Ostukraine habe es einen Genozid gegeben. Wir sollten aufhören, überhaupt mit ihm darüber zu argumentieren. Er ist ein von Obsessionen geplagter Mensch und wir lassen uns beeindrucken von der Schamlosigkeit und Dreistigkeit seines Auftritts. Zu der angeblichen Parallele von 1941 kann ich Ihnen etwas anderes sagen. Ich habe am Donnerstag mit meinem Verleger in Kiew telefoniert. Er saß zusammen mit seiner 90-jährigen Mutter in seiner Wohnung, und die sagte Folgendes: Was jetzt in Kiew passiere, das erinnere sie an das, was sie 1941 erlebt hat, als die deutsche Wehrmacht in Kiew einmarschierte. Das sind die wahren Verhältnisse.
Putin stellt den Angriff nicht nur als Reaktion auf einen angeblichen Genozid dar, sondern auch als eine Art Defensivkrieg gegen die NATO. Russland ist in diesem Narrativ Held und Opfer zugleich, was ja einigermaßen absurd ist. Funktioniert das bei der Mehrzahl der Russen?
Die Meinungsbildung in der Russischen Föderation liegt in den Händen von staatlich kontrollierten Fernsehanstalten. Ich schlage vor, dass man im deutschen Fernsehen einmal einen Abend mit russischen Programmen zeigt, insbesondere die Talkshows von Wladimir Solowjow. Man kann sich nicht vorstellen, was für Wellen von Lügen und Kriegshetze jeden Abend über das ganze Land niedergehen. Für eine eigenständige Meinungsbildung gibt es keinen Raum, denn konkurrierende Interpretationen und Informationen gibt es nicht. Dennoch glaube ich nicht, dass die Russen wieder einen Enthusiasmus an den Tag legen werden wie 2014 nach der Annexion der Krim. Aber es wird eine Weile dauern, bis dieses traumatisierte Land zu sich kommt und seine Stimme erhebt. Im Augenblick sind es sehr wenige. Dass es in Moskau und anderen Städten Kundgebungen gegen den Krieg gegeben hat, dürfen wir nicht ignorieren. Nicht ganz Russland ist Putins Russland. Und es gibt Erklärungen von bedeutenden Intellektuellen, die diesen Krieg kritisieren. Etwa der Friedensnobelpreisträger und Herausgeber der "Nowaja Gaseta", Dmitri Muratow. Er schrieb, er schäme sich, weil Putin diesen Krieg gegen die Ukraine angezettelt hat.
Nimmt Putin die Ukraine auch deshalb als so gefährlich wahr, weil sie Russland sprachlich und kulturell nahesteht und gleichzeitig demonstriert, wie es ist, ein offenes, freies Land zu sein?
Ja. Die Ukraine ist ein anderes Land geworden. Es ist zwar mitunter schwierig und chaotisch dort, und natürlich gibt es alle Erscheinungen der Korruption und der Willkür. Das ist alles wahr. Aber die Ukraine ist ein ganz anderes Land als Russland geworden. Es gibt verschiedene Fernsehsender, es gibt eine Auseinandersetzung, manchmal vielleicht sogar zu viel Auseinandersetzung. Aber das Land berappelt sich. Überall im Land sagen die Leute: Wir wollen von Russland in Ruhe gelassen werden. Was will der Putin eigentlich, wenn er uns angreift? Das ist die Stimmung im Lande, jetzt erst recht.
Wagen Sie eine Prognose, wie es mit der Ukraine weitergeht? Wird es einen Partisanenkampf gegen die russische Armee geben, wird Putin in Kiew ein Marionettenregime installieren?
Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass wir ganz am Anfang dieser Auseinandersetzung stehen, und dass schreckliche Dinge passieren werden. Die Ukrainer werden sich wehren. Es wird nicht ganz so einfach, wie Putin sich das wahrscheinlich mit seinem Blitzkrieg vorgestellt hat. Ob es auf eine dauerhafte Besatzung, eine Teilung des Landes, die Verhaftung der gewählten Regierung und die Etablierung eines Marionettenregimes hinausläuft - das alles wissen wir nicht. Die Europäer sind im Moment, das muss man einfach sagen, nur mitfühlende, aber abseits stehende Zuschauer.
Glauben Sie, dass Putin - der ja die Geschichte eigentlich auf die Zeit vor 1997 zurückdrehen, also die NATO aus Osteuropa vertreiben will - sich mit der Ukraine zufriedengibt?
Er wird alles unternehmen, was der Festigung seiner Macht, seiner Großmacht und seiner Diktatur dient. Vor dem Angriff auf die Ukraine hat er ja bereits eine Drohung ausgestoßen, die man sich eigentlich auch nicht hatte vorstellen können. Er sagte, wer auch immer sich jetzt auf Seiten der Ukrainer einmische, dem werden wir etwas zeigen, was die Geschichte noch nicht gesehen hat. Das ist die unverhohlene Drohung mit Dingen, die wir uns tatsächlich noch nicht vorstellen können. Inzwischen hat er seine Nuklearwaffen in Alarmzustand versetzt.
Mit Karl Schlögel sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de