Kommentare

Die Waffe, die Logistik lahmlegt Taurus nicht zu liefern, ist die falsche Entscheidung

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ein Plakat auf einer Wahlkampfkundgebung der SPD, als Olaf Scholz in München sprach.

Ein Plakat auf einer Wahlkampfkundgebung der SPD, als Olaf Scholz in München sprach.

(Foto: IMAGO/Wolfgang Maria Weber)

Seit gestern ist bekannt: Deutschland kommt der Bitte der Ukrainer um Taurus-Marschflugkörper nicht nach. Das kostet die Ukraine Zeit, die sie nicht hat. Es kostet Kampfkraft, die sie dringend braucht, und nicht zuletzt Menschenleben.

Es gibt keine Gamechanger im Krieg, keine Wunderwaffe, die das Blatt allein zu wenden vermag. Das erklären Fachleute seit Monaten und viele plädieren dennoch dafür, der Ukraine mit Taurus-Marschflugkörpern zu helfen, die Olaf Scholz - seit gestern ist es öffentlich - nicht liefern will.

Warum die Forderungen? Weil das Ergebnis im Kampf an der Front in erheblichem Maß davon abhängt, wie gut eine Kriegspartei in der Lage ist, Waffen, Munition und Truppen nachzuschieben, im laufenden Gefecht. Die Qualität der Logistik entscheidet darüber, ob beschädigte Waffen repariert zurückkommen, ob die Kämpfenden beim Munitionsvorrat aus dem Vollen schöpfen können und sich auch sonst gut versorgt wissen, mithin - wie kampffähig die Truppen sind.

Vermutlich sind auch viele russische Einheiten im Süden der Ukraine inzwischen geschwächt, kämpfen mit Versorgungsproblemen, aber: Sie sind in der Defensive und haben es damit leichter. Sie müssen sich nicht bewegen, sondern wehren die ukrainischen Angriffe aus gut gesicherten Stellungen ab. Die Russen stoppen Kiews Vorstöße mit zugepflasterten Minenfeldern und reichlich Unterstützung aus der Luft. Die notwendige Überlegenheit, die man für eine erfolgreiche Offensive braucht, vermögen die vorrückenden Ukrainer gegen diese russische Abwehr bislang nur punktuell herzustellen. Das könnte, so ist zu befürchten, bis zum Ende dieser Offensive so bleiben.

Taurus könnte wichtige Nachschubwege abschneiden

Was aber möglich wäre: Die russischen Kräfte sehr nachhaltig und schon mit Blick auf das kommende Jahr in ihrer Logistik zu schädigen. Das passiert bereits mit Marschflugkörpern der Typen Storm Shadow (britisch) und SCALP (französisch). Das könnte stark ausgeweitet werden, wenn Deutschland sich mit seinem Taurus einreihen würde. Alle drei wurden vom selben Rüstungskonzern MBDA produziert. Aber Taurus kann noch etwas mehr.

Mit seiner hohen Reichweite und seiner Unempfindlichkeit gegen russische GPS-Störer hätte er gute Chancen, die Nachschubwege von und zur Krim effektiv abzuschneiden, trotz russischer Gegenwehr. Etwa zu 85 Prozent werden Putins Truppen derzeit über die Krim versorgt, beziffert der Sicherheitsexperte Carlo Masala. Wer hier ansetzt, kann große Wirkung erzielen.

Taurus könnte sogar der Kertsch-Brücke gefährlich werden - anders als die bisherigen Angriffe, die auf der Verbindungsbrücke zwischen Krim und russischem Festland nur leichte Schäden verursachten. Aber wäre das nicht ein empfindlicher Schlag für Putin und damit ein Eskalationsrisiko?

Ein Risiko - ja, das lässt sich nicht abstreiten. Aber solche Risiken ist man inzwischen schon vielfach eingegangen - wie jüngst beim Angriff auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Wie bei der Entscheidung, westliche Kampfjets zu liefern. Oder wie beim NATO-Beitritt Finnlands. Putins Eskalation bei letzterem: Er begann jetzt damit, an den Grenzen zu Finnland und Norwegen Truppen abzuziehen. Wer Putin keine empfindlichen Schläge zufügt, wird ihn nicht zu Verhandlungen zwingen können.

Dem zentralen Argument für eine Taurus-Lieferung stehen Contra-Argumente gegenüber. Diejenigen, die Olaf Scholz vor dem Auswärtigen Ausschuss anführte, lassen sich entkräften: Wenn man durch die Lieferung von Geodaten zur Kriegspartei würde, müssten Großbritannien und Frankreich bereits involviert sein. Deren Marschflugkörper brauchen auch Geodaten. London und Paris könnten auf Bitten Berlins womöglich sogar die Daten für den Taurus mitbestimmen lassen? Wäre eine Überlegung wert.

Soldaten dürfte Berlin tatsächlich nicht in die Ukraine senden, um den Marschflugkörper zu programmieren. Aber gegen Techniker des Herstellers sagt das Völkerrecht nichts und auch nicht dagegen, Ukrainer beim Unternehmen in Deutschland schulen zu lassen. Das würde sicher Monate dauern, aber dieser Krieg wird sehr wahrscheinlich auch im Jahr 2024 noch nicht enden. Es empfiehlt sich, auch für die Zukunft zu denken.

Die von Scholz genannten Faktoren stünden einer Taurus-Lieferung nicht im Wege, wenn der Kanzler wirklich liefern wollte. Bedenken kann man dennoch haben: Der Marschflugkörper ist kein Artikel "von der Stange", sondern wurde einmal speziell dafür entwickelt, einen etwaigen russischen Angriff über die Ostsee abzuwehren. Geriete ein verunfalltes Exemplar in die Hände des Gegners, bekäme Moskau womöglich Einsicht in sensible deutsche Rüstungstechnik, explizit auf russische Fähigkeiten abgestimmt.

Wertvoll für die Entwicklung von Taurus II

Doch auch dieser Faktor muss kein Ausschlusskriterium sein, wenn Berlin sich entscheiden würde - so wie Frankreich und Großbritannien -, die wertvollen Erfahrungen, die die Ukraine nun im Einsatz mit den westlichen Marschflugkörpern macht, für die Entwicklung eines Nachfolgers zu nutzen. Diese Daten aus einem realen Krieg, die keine noch so ausgeklügelte Truppenübung je hervorbringen kann, wären Gold wert für die Rüstungsindustrie und damit für einen Taurus II.

Kanzler Scholz hat sich dagegen entschieden. Das ist tragisch für die Ukrainer, die auf dem Schlachtfeld ihr Leben lassen, weil ihnen ihre westlichen Partner nicht dasselbe Maß an Unterstützung gewähren, das für sie beim Einsatz eigener Truppen selbstverständlich wäre. Bedauerlich ist es aber auch für Deutschland selbst, das hier eine Chance verpasst, bei der eigenen Verteidigung weiter in die Zukunft zu denken. Schlecht ist die Entscheidung für den größten Ukraineunterstützer USA in innenpolitisch schwierigen Zeiten. Washington hätte jetzt das Signal gebraucht, dass Deutschland mehr Verantwortung übernimmt für Frieden in Europa.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen