WM-Zeitreise - 2. Juli 1994 Ein Mord überschattet die WM
02.07.2018, 11:08 Uhr
Gedenken an Andrés Escobar, der nach einem WM-Eigentor erschossen wird.
Noch während die WM in den USA läuft, wird der Kolumbianer Andrés Escobar erschossen. Zehn Tage zuvor hatte er mit seinem Eigentor dafür gesorgt, dass sein Team vorzeitig nach Hause musste. Das hat einige Leute offensichtlich viel Geld gekostet.
Als um 19 Uhr mitteleuropäischer Zeit das Achtelfinale zwischen der deutschen Mannschaft und Belgien angepfiffen wird, steht die WM 1994 in den USA schon seit einigen Stunden unter Schockstarre. Andrés Escobar, der kolumbianische Nationalspieler, ist in der Nacht vor einer Bar in Medellín erschossen worden. Schnell machen Gerüchte die Runde, dass der Tod Escobars in direktem Zusammenhang mit seinem Eigentor, das er wenige Tage zuvor am 22. Juni 1994 im WM-Vorrundenspiel gegen die USA erzielte, stehen könnte. Ein Augen- und Ohrenzeuge der Tat hatte berichtet, dass der Todesschütze seine Schüsse mit einem lauten und langanhaltenden "Gooool"-Ruf begleitet habe. Doch obwohl man den mutmaßlichen Mörder ergreift und verurteilt, sind die tatsächlichen Hintergründe der Tat bis heute nie ganz genau aufgeklärt worden.
Im Sommer 1994 hatte sich Kolumbien zu einem echten Geheimfavoriten für die Weltmeisterschaft in den USA gemausert. Die Elf um Andrés Escobar, Kapitän Carlos Valderrama, Freddy Rincón, Faustino Asprilla und Adolfo Valencia hatte neun Monate vor der WM das Qualifikationsspiel gegen Argentinien in Buenos Aires mit 5:0 für sich entscheiden können. Spätestens nach dieser Partie hatten die Experten Kolumbien genauer in ihr Blickfeld genommen. Doch nicht nur die Fußball-Fachleute hatten sich diese Begegnung ganz genau angeschaut - auch Wett-Spezialisten interessierten sich für das Spiel. Und möglicherweise hatten sie den richtigen Riecher. Vermutungen, asiatische Wettsyndikate könnten hinter dem außergewöhnlichen Ergebnis stecken, erhärteten sich. Endgültig aufgeklärt werden konnte aber auch dieser Fall nie.
Drogenkartell entdeckt den Fußball für sich
Der Mord am kolumbianischen Nationalspieler Andrés Escobar kam also alles andere als aus dem Nichts. Vor mehr als zehn Jahren hatte das Drogenkartell den Fußball als Spielfeld für sich entdeckt. Die Leidenschaft der Mafiabosse für den Sport und die optimalen Voraussetzungen des Profi-Fußballs für die Geldwäsche gingen schnell eine unheilvolle Symbiose ein. Als 1984 der Vorsitzende von Atlético Nacional aus Medellín, Botero Moreno, an die USA wegen des Verdachts der Geldwäsche ausgeliefert wird, wird erstmals für alle überdeutlich offensichtlich, welche Verknüpfungen zwischen dem Fußball und der Mafia bestehen. Fünf Jahre später wird Atlético Nacional Meister in der kolumbianischen Liga. Es ist ausgerechnet das Jahr, in dem der Schiedsrichter Daniel Ortega erschossen wird.
Weitere fünf Jahre später hatte sich nichts Wesentliches verändert oder gar gebessert. Eher im Gegenteil. Und obwohl die kolumbianische Nationalmannschaft voller Hoffnung in die USA reiste, sollte schon nach dem ersten Spiel nur noch die Angst regieren. Nach der 1:3-Pleite gegen Rumänien meldeten sich die Drogenkartelle in der Heimat lautstark zu Wort. Morddrohungen wurden ausgestoßen. Trainer Maturana übermittelte seinem Team die bedrückenden Nachrichten. Eine dieser Botschaften war unmissverständlich: Sollte Gabriel Gómez im zweiten Gruppenspiel gegen die USA auflaufen, würde es Tote geben. Gómez erkannte den Ernst der Lage - und verzichtete darauf, weiter ein Teil der Mannschaft zu sein.
Escobar erzielt tödliches Eigentor
Mit dieser Last auf den Schultern trat Kolumbien am 22. Juni 1994 im Rose Bowl Stadium von Pasadena an. Und beinahe wäre an diesem Tag doch noch alles gut ausgegangen. Denn in der 7. Spielminute schoss der US-Boy Mike Sorber fast ein Eigentor - doch der Ball prallte vom Pfosten ab. Dieses Glück hatte Andrés Escobar nicht. Als in der 35. Spielminute Eric Wynalda scharf in den kolumbianischen Strafraum flankte, wollte Escobar vor dem einschussbereiten Spieler hinter sich klären. Doch er tat es so unglücklich, dass die Kugel im eigenen Tor einschlug. Am Ende verlor Kolumbien auch diese zweite Partie. Zu Hause schüttete die Presse Kübel der Häme über die einstmals als Geheimfavorit gestartete Elf aus.
Zurück in Medellín will sich Andrés Escobar nicht vor den Menschen verstecken. Er will Auge in Auge für seinen Fehler geradestehen. Und so geht er am Abend des 1. Juli zusammen mit Freunden in eine Bar. Wenige Stunden später ist der Kolumbianer tot. Über den Weltmeisterschaften in den USA liegt ein dunkler Schatten - bis heute!
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Quelle: ntv.de